Literature/Sources:
Pragmatische Kollaboration?
Die SS-Mullah-Schule in Dresden
Taschenberg 3
(13.73562, 51.05224)Mona Samira Bouguerba, Claudia Minet, Angela Stuhrberg, Anke Woschech
Script
Der Historiker David Motadel im Gespräch mit Till Schmidt über die Islampolitik im Nationalsozialismus: 1 Till Schmidt: Die Deutschen als Schutzmacht des Islam. David Motadel, Historiker, im Gespräch über die Islampolitik im »Dritten Reich«. In: Jungle World 28/2018, https://jungle.world/artikel/2018/28/die-deutschen-als-schutzmacht-des-islam.
Auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, 1941/42, haben die Nazis begonnen, den Islam als politisch bedeutende Kraft wahrzunehmen. Warum?
Die Gründe für diese Politik waren vielfältig. Zum einen waren die deutschen Truppen in vielen Gebieten, in denen sie ab 1941/42 kämpften, mit einer islamischen Bevölkerung konfrontiert – vor allem auf dem Balkan, in Nordafrika, aber auch auf der Krim und im Kaukasus. Gleichzeitig verschlechterte sich Ende 1941 die militärische Lage. Die Strategie des Blitzkriegs war in der Sowjetunion gescheitert. Die deutschen Truppen gerieten zunehmend unter Druck. Die Führung bemühte sich daher aus kurzfristigem militärischem Kalkül heraus, neue Verbündete zu gewinnen. Das NS-Regime versuchte intensiver, Muslime zum Kampf gegen angeblich gemeinsame Feinde zu mobilisieren – das britische Empire, die Sowjetunion, Amerika, Juden.
Auf welchem Weg geschah dies?
Bereits 1941, kurz vor dem Einmarsch in Nordafrika, gab die Wehrmacht die Tornisterschrift »Der Islam« heraus, um die deutschen Soldaten im Umgang mit den dortigen Muslimen zu instruieren. Die Broschüre enthielt nicht nur praktische Ge- und Verbote im Umgang mit Muslimen vor Ort, sondern auch einen kurzgefassten Überblick über die Geschichte und die Traditionen des Islam – mit dem Ziel, Verhaltensweisen zu verhindern, die von Muslimen als verletzend oder anstößig empfunden werden konnten.
An der Ostfront, also in der Sowjetunion, wo Stalin vor dem Krieg den Islam unterdrückt hatte, bauten die deutschen Besatzer Moscheen und Koranschulen wieder auf, in der Hoffnung, so die Sowjetherrschaft zu unterminieren. Auch wurden islamische Geistliche aus Nordafrika, vom Balkan und aus den Ostgebieten angeworben. Deutsche Propagandisten politisierten religiöse Texte wie den Koran und religiöse Imperative wie das Konzept des Jihad, mit dem Ziel, Muslime zur religiösen Gewalt gegen die angeblich gemeinsamen Feinde anzustacheln. Die Deutschen versuchten, sich als Schutzmacht des Islam zu präsentieren.
Welche Rolle spielte die militärische Mobilisierung von Muslimen?
Wehrmacht und Waffen-SS rekrutierten ab 1941 Zehntausende muslimische Freiwillige – darunter Bosnier, Albaner, Krimtataren und Muslime aus dem Kaukasus und aus Zentralasien. Man erhoffte sich, dadurch (so genanntes) »deutsches Blut« zu sparen und die Verluste an der Ostfront auszugleichen. Muslimische Soldaten wurden an allen Fronten eingesetzt – sie kämpften in Stalingrad, Warschau, Mailand und sogar bei der Verteidigung Berlins. Interessanterweise wurden den Rekruten umfassende religiöse Zugeständnisse gemacht: etwa beim Gebet oder dem Schächten. (…) Eine besondere Rolle in den Einheiten spielten Militärimame. Diese waren nicht nur für die religiöse Betreuung der Rekruten verantwortlich, sondern auch für deren politische Indoktrinierung.
Warum schlossen sich Muslime dem deutschen Militär an?
In der Regel nicht aus religiösen Beweggründen. Viele Muslime wurden in Kriegsgefangenenlagern rekrutiert. Ihnen ging es vor allem darum, dem Hunger und den Seuchen in den Camps zu entkommen. Und sie hofften einfach, dass ihnen eine deutsche Uniform ermöglichen würde, den Krieg zu überleben. Andere hingegen setzten darauf, mit Hilfe Deutschlands ihre Heimat von der Sowjetherrschaft zu befreien. In Gebieten, in denen die Wehrmacht und SS Freiwillige aus der Zivilbevölkerung rekrutierten – etwa auf dem Balkan oder auf der Krim –, hofften viele, ihre Familien so vor Partisanen und marodierenden Milizen zu schützen.
[…]
Wie passte die Einbindung von Muslimen mit der nationalsozialistischen (sogenannten) »Rassenpolitik« zusammen?
Hitler hatte sich zwar immer wieder verächtlich über Inder oder Araber geäußert. In der Praxis jedoch zeigte sich das NS-Regime pragmatisch: Nichtjüdische Türken, Iraner und Araber wurden bereits in den dreißiger Jahren explizit von jeglicher offiziellen rassistischen Diskriminierung ausgenommen – aufgrund von Interventionen der Regierungen in Teheran, Ankara, und Kairo.Während des Krieges bewiesen die Deutschen ähnlichen Pragmatismus gegenüber Muslimen vom Balkan und den turksprachigen Minderheiten der Sowjetunion.
Dennoch bestand der Rassismus fort. Die deutsche Politik, wie sie von Bürokraten in Berlin entworfen wurde, hatte häufig wenig mit den Realitäten in den Frontzonen zu tun. Ein Beispiel: In den ersten Monaten nach dem Überfall auf die Sowjetunion erschossen SS-Einsatzgruppen Tausende Muslime, insbesondere Kriegsgefangene, weil sie aufgrund deren Beschneidung darauf geschlossen hatten, dass es sich um Juden handele. Dies führte schließlich dazu, dass Reinhard Heydrich, als Chef des SS-Reichssicherheitshauptamtes, einen Befehl erließ, in dem er die Einsatzgruppen dazu ermahnte, vorsichtiger zu sein. In den Frontgebieten stießen die Deutschen auf religiös und ethnisch heterogene Bevölkerungen, darunter muslimische Roma und jüdische Konvertiten zum Islam. Allein in Sarajevo waren zwischen April und Oktober 1941 etwa 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung zum Islam oder zum Katholizismus konvertiert. Anderen gelang es, als Muslime verkleidet zu flüchten, etwa versteckt unter einem islamischen Schleier.
War die Islampolitik im Sinne des nationalsozialistischen Kalküls erfolgreich?
Während die Politik des Jihad im Ersten Weltkrieg als Fehlschlag gewertet werden kann, gelang es im Zweiten Weltkrieg immerhin, Zehntausende Muslime für den Kampf gegen die Alliierten zu mobilisieren. Insgesamt jedoch waren die deutschen Versuche, muslimische Verbündete zu gewinnen, weniger erfolgreich als erhofft. Die militärische Lage war ab 1943 so aussichtslos, dass auch die muslimischen Soldaten daran nichts ändern konnten. Deutschlands Feinde – also vor allem das Britische Empire, aber auch die Sowjetunion – waren häufig sehr viel erfolgreicher darin, Muslime zu rekrutieren. Hunderttausende kämpften für die Alliierten – vor allem in den Kolonialtruppen der Briten und bei de Gaulles Streitkräften für ein freies Frankreich. Diese muslimischen Soldaten trugen maßgeblich zur Befreiung Europas bei.
Wie beurteilten die Nazis die Einbindung von Muslimen ideologisch?
Einige führende Nazis, vor allem Hitler und Himmler, waren vom Islam fasziniert – und haben auch wiederholt öffentlich ihre ideologische Sympathie für den Islam bekundet. Wann immer Hitler während der Kriegsjahre die katholische Kirche kritisierte, verglich er sie mit dem Islam als positivem Gegenbeispiel: Während er den Katholizismus als schwache, verweichlichte Religion verurteilte, lobte er den Islam als starke, aggressive Kriegerreligion. Insgesamt waren es jedoch strategische, pragmatische Gründe – keine ideologischen Motive –, die hinter der deutschen Islampolitik standen. Der Islam war für das NS-Regime vor allem Mittel zum Zweck – das war jedem bewusst. Und dennoch: Das Fehlen ideologischer Bedenken gegen den Islam und Muslime war eine notwendige Voraussetzung für die deutsche Islampolitik.
Welche Bedeutung hatte dabei der Antisemitismus?
Eine enorme – so wie in der deutschen Auslandspropaganda insgesamt. Häufig war er verbunden mit Angriffen auf die zionistische Migration nach Palästina. Besonders stark wurde diese Propaganda in der arabischen Welt betrieben, aber auch auf dem Balkan und an der Ostfront war die NS-Propaganda für Muslime stark antisemitisch aufgeladen. Das Regime nutzte Rundfunk- ebenso wie Flugblattpropaganda in den entsprechenden lokalen Sprachen.
Einige der muslimischen Verbündeten – allen voran der Mufti von Jerusalem – teilten den Judenhass des NS-Regimes. In den Kriegsgebieten selbst – also auf dem Balkan, in Nordafrika oder in den Ostgebieten – war das Bild komplizierter. In vielen dieser Gebiete hatten Muslime und Juden lange Zeit zusammengelebt. Und in einigen Fällen halfen Muslime Juden, sich vor den Deutschen zu verstecken.
Historisches: Im Laufe des 2. Weltkrieges hat sich die Waffen-SS von einer ursprünglich weltanschaulichen und militärischen Einheit ausschließlich deutscher Soldaten zu einer multiethnischen Armee entwickelt. Während des Zweiten Weltkrieges kämpften auf deutscher Seite aus unterschiedlichen Gründen auch viele Muslime. Oft waren es gemeinsame Feindbilder oder eine pragmatische Kollaboration, die die Muslime in die Wehrmacht und SS führten. Insgesamt gab es bei der deutschen Wehrmacht sechs mehrheitlich muslimische Legionen und bei der SS drei Divisionen, eine Brigade und einen Waffenverband mit mehrheitlich muslimischen Mitgliedern. Die in den Ostlegionen der Wehrmacht kämpfenden Muslime waren Aserbaidschaner, Krim- und Wolgatataren, Nordkaukasier, Baschkiren und Usbeken. Sie wurden vor allem unter sowjetischen Kriegsgefangenen angeworben. Zumindest von den Waffen-SS-Einheiten der muslimischen Bosnier sind schwere Kriegsverbrechen bei der sogenannten Partisanenbekämpfung auf dem Balkan bekannt. 2 Titus Lenk: Die SS-Mullah-Schule und die Arbeitsgemeinschaft Turkestan in Dresden. In: Zukunft braucht Erinnerung. Das Online-Portal zu den historischen Themen unserer Zeit, 2006. https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-ss-mullah-schule-und-die-arbeitsgemeinschaft-turkestan-in-dresden/ (zuletzt abgerufen am 20.03.2024).
Vom SS-Hauptamt wurde die Tätigkeit von Imamen, Vorbetern beim islamischen Gebet, in den einzelnen Bataillonen genehmigt und die Beachtung der islamischen Speisevorschriften zugesagt. Auch die Einhaltung muslimischer Begräbnisriten wurde gewährt. Jede muslimische Einheit bekam somit einen Mullah, einen islamischen Prediger oder Geistlichen, als Ratgeber gestellt. Die muslimischen Feldgeistlichen mussten jedoch in der Regel erst noch ausgebildet werden. Daher wurde im November 1944 in Dresden auf Initiative des SS-Reichsführer Heinrich Himmler eine SS-Mullah-Schule speziell für Muslime aus dem Gebiet der UdSSR gegründet. Sie waren im »Osttürkischen« - und im »Kaukasischen Waffenverband« innerhalb der SS organisiert. 3 Ebenda.
Für die SS-Mullah-Schule wurde eine Villa in Dresden-Blasewitz gemietet. 4 Victor Klemperer: Tagebücher 1944, Berlin 1999, S. 148 (12. November 1944). Sie hatte der Dresdner Jüdin Jenny Jacoby gehört, und wurde nach deren Enteignung als sogenanntes »Judenhaus« von mehreren jüdischen Familien bewohnt. Unter ihnen waren Victor und Eva Klemperer. Die meisten Bewohner und Bewohnerinnen wurden 1942 und 1943 nach Theresienstadt oder Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet.
Im Zuge der islamischen ›Umgestaltung’ der Villa erhielt die große Eingangshalle Mosaik-Imitate und Koransprüche nach dem Vorbild zentralasiatischer Moscheen. Ein weiterer Raum wurde mit einer Gebetsnische ausgestattet und sollte als Betsaal dienen. Die Suche nach muslimischem Lehrpersonal gestaltete sich schwierig. Für die Leitung wurde schließlich Prof. Alim Idris gewonnen, ein Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Er konnte allerdings nur drei Tage in der Woche in Dresden sein, da er in Berlin für die propagandistischen Radiosendungen für den sowjetisch-asiatischen Raum zuständig war. 5 van Koningsveld, Pieter Sjoerd: The Training of Imams by the Third Reich, in: The Study of Religion and the Academic Training for Muslim Clergy in Europe, Leiden 2008, Appendix: S. 353.
Von Anbeginn war auch Amin el-Husseini, der mit den Nazis kollaborierende Mufti von Jerusalem, in die Planungen für eine SS-Mullah-Schule in Dresden involviert. Er hatte das SS-Hauptamt von der Notwendigkeit einer solchen Einrichtung überzeugt und hoffte seinen Einfluss auf alle im Deutschen Reich lebenden Muslime auszuweiten. Zur Eröffnung der Schule am 26. November 1944 schickte er folgendes Glückwunschtelegramm an Himmler: »Anlaesslich der Eroeffnung des Imamen-Institutes der Osttuerken in Dresden, das als weiteres Zeichen für Ihr grosses Interesse an der islamisch-deutschen Zusammenarbeit zu betrachten ist, uebermittle ich Ihnen den aufrichtigen Dank und die besten Gruesse der Muslimen. Ich versichere Sie, das diese Zusammenarbeit in dem gemeinsamen Kampf immer enger groesser und bis zum Endsieg andauern wird. Gez. Amin El Husseini Der Großmufti z. Zt. Dresden«. 6 Fernschreiben von Amin El Husseini an Himmler vom 27.11.1944, in: Höpp, Gerhard (Hg.): Mufti-Papiere. Briefe, Memoranden, Reden und Aufrufe Amin al-Husainis aus dem Exil, 1940 – 1945, Berlin 2001, S. 229
Auch der SS-Gruppenführer Walter Schellenberg appellierte in seiner Rede zur Eröffnung der SS-Mullah-Schule in Dresden an die Bereitschaft der nichtrussischen Völker der Sowjetunion, »an der Seite Deutschlands gegen den Bolschewismus zu kämpfen.« Er nannte den Islam ein »wichtiges Bollwerk gegen eine nationale, völkische und kulturelle Entwurzelung der Osttürken«. 7 Heine, Peter: Die Mullah-Kurse der Waffen-SS in: G. Höpp und B. Reinewald (Hg.), a.a.O., S. 184.
Den Aufzeichnungen von SS-Obersturmbannführer Reiner Olzscha ist zu entnehmen, dass der geplante Unterricht arabische Schreib- und Leseübungen, Koranlesungen, Kommentare zum Koran, Geschichte des Islams und der islamischen Völker und Gebetsübungen umfasste. 8 van Koningsveld, Pieter Sjoerd, a.a.O., S. 361.
In einem Bericht über seine Dienstreise zur Freiwilligen (Turk)Arbeits- und Ersatzbrigade schildert der Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes Alim Idris die Inhalte seiner ideologischen Schulungen, von denen auch auf die Lehrinhalte an der SS-Mullah-Schule geschlossen werden kann: »In meinen politischen Vorträgen habe ich hauptsächlich die imperialistische und islamfeindliche Politik der drei Mächte England, Amerika und Sowjetunion und die islamfreundliche Politik Deutschlands (…) mit Beispielen aus der Geschichte dargelegt und bewiesen, dass im Falle eines anglo-amerikanischen-sowjetischen Sieges 2 Milliarden Menschen ohne Ausnahme lange Jahre Sklaven der 15.000.000 internationalen Juden sein würden (…). Deshalb müssen nicht nur die Türkischen Mohammedaner sondern auch andere Bevölkerungen Rußlands neben den tapferen deutschen Soldaten gegen die Anstürme Jüdisch-Sovjet-Rußlands unter Einsatz ihrer ganzen Kraft kämpfen«. 9 Prof. Idris an den General des Freiwilligen-Verbandes im OKH Hauptmann Michel am 19. Januar 1945. Archiv des Institutes für Zeitgeschichte, Film MA 356.
Insgesamt wurden von Idris in der Dresdner SS-Mullah-Schule 62 muslimische sowjetische Kriegsgefangene zu Feldgeistliche ausgebildet. Es sind dreizehn Schüler bekannt, die als Lehrpersonal in der Dresdner Einrichtung bleiben sollten. Im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte in München liegen Namenslisten der Klassen I und II sowie zweisprachige Zeugnisdokumente vor. Nach den Luftangriffen auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 stellte die Schule ihre Lehrtätigkeit ein. Die Mitarbeiter und Schüler flohen nach Weißenfels in Sachsen-Anhalt. Nach dem Mai 1945 verliert sich ihre Spur. Es gibt jedoch Hinweise, dass sich einige der muslimischen Soldaten der Auslieferung an die Sowjetunion entzogen und sich im süddeutschen Raum niederließen. 10 von Zur Mühlen, Patrik: Zwischen Hakenkreuz und Sowjetstern. Der Nationalismus der sowjetischen Orientvölker im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf, 1971, S. 226ff.
Die Wirkmächtigkeit der antisemitischen Propagada muss schon allein aufgrund der Kürze des Bestehens der Dresdner SS-Mullah-Schule als vergleichsweise gering eingeschätzt werden. Ein bedeutsameres Propagandawerkzeug waren die arabischsprachigen Kurzwellensender, z.B. der aus dem kleinen Ort Zeesen südlich von Berlin. Er wurde eines von mehreren, in das Ausland wirkenden Propagandamitteln der nationalsozialistischen Regierung.
Der Politikwissenschaftler und Historiker Matthias Küntzel schreibt: »Seit 1939 sendete er täglich ein arabischsprachiges Programm in den Nahen und Mittleren Osten. Kein anderer Sender erfreute sich dort zwischen 1939 und 1945 einer größeren Beliebtheit als der Nazi-Sender aus Zeesen. Hier wurden antisemitische Hetzbeiträge mit Zitaten aus dem Koran und arabischer Musik über den Äther geschickt. Programmhöhepunkte bei Radio Zeesen waren die Jihad-Aufrufe der damals populärsten Figur in der arabisch-islamischen Welt, des Mufti von Jerusalem, Amin el-Husseini, der zwischen 1941 und 1945 in Berlin lebte. Niemand beförderte den Judenhass unter Muslimen erfolgreicher als er und prägte zugleich die Frühgeschichte des Nahostkonflikts.« 11 Matthias Küntzel: Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt. In: Doron Rabonovici, Ulrich Beck und Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main, 2004, S 272.
Heinrich Himmler und Amin-el Husseini verband eine gemeinsame Ideologie, die Küntzel so beschreibt: »Heinrich Himmler schwärmte von der weltanschaulichen Verbundenheit zwischen Nationalsozialismus und Islam. Er führte auch den Begriff des »Muselgermanen« ein. Und el-Husseini wies auf ideologische Gemeinsamkeiten von Muslimen und Deutschen hin:
Gehorsam und Disziplin,
der Kampf und die Ehre im Kampf zu fallen,
die Gemeinschaft, Familie und Nachwuchs,
Verherrlichung der Arbeit und des Schaffens und das Verhältnis zu den Juden.«
Amin-el Husseini erklärte: »In der Bekämpfung des Judentums nähern sich der Islam und der NS einander sehr«. 12 Ebenda, S. 277.
Die Kollaboration muslimischer sowjetischer Kriegsgefangener mit den Nationalsozialisten wirft jedoch Fragen nach politischen und persönlichen Motiven der SS-Mullah-Schüler in Dresden auf. Über ihre Beweggründe, auf die deutsche Seite zu wechseln, kann aufgrund des vorhandenen Quellenmaterials nur spekuliert werden, wie auch die Geschichte der SS-Mullah-Schule ausschließlich aus Dokumenten und Interviews deutscher SS-Angehöriger rekonstruiert werden kann.
Zentral ist dabei die Definition des Begriffs der Freiwilligkeit. Angesichts der Verhältnisse in den sowjetischen Kriegsgefangenenlagern kann keineswegs von einer uneingeschränkt freien Entscheidung die Rede sein. 13 Zwischen 1941 und 1945 gerieten weit über 5 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. 3,2 Millionen Rotarmisten kamen dabei durch Folter, Zwangsarbeit, Hunger oder Kälte ums Leben. Vgl. Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn 1997. Der Historiker Andrej Angrick spricht von den Rekrutierungen als »Selektion zum Leben – allerdings um den Preis der Kollaboration und des Waffengangs«. 14 Angrick, Andrej: Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941 – 1943, Hamburg 2003.
Der Leiter des SS-Hauptamtes, Gottlob Berger, machte deutlich, wie rassistisch und instrumentell sein Verhältnis zu den Soldaten war: »Versagen sie, dann schießen wir sie tot. Eine einfache Sache.« 15 von Zur Mühlen, Patrik, a.a.O., S. 154. Die umfangreichsten Ausführungen zu dieser Fragestellung macht der Historiker Patrik von zur Mühlen, der zu dem Schluss kommt, dass persönliche Motive die politischen Motive überwogen. Zwar verstanden die Nationalkomitees der sowjetischen Freiwilligen auf deutscher Seite die Legionen als »nationale Befreiungsarmeen«. Unbeantwortet bleibt aber mangels Quellen wie etwa Selbstzeugnissen die Frage, ob die Legionäre ihre Rolle selbst so interpretierten. Im Falle politischer Motive glaubt von zur Mühlen, dass der Nationalismus vor etwaigen antikommunistischen Strömungen Vorrang hatte. Hinsichtlich der Loyalität macht von zur Mühlen diverse Ausführungen zu Desertionen und Überläufen zu PartisanInnen und zurück zur Roten Armee: »… vor allem im Kaukasus desertierten mehrere kaukasische Verbände auf die sowjetische Seite, entweder aus Heimweh oder um nicht gegen die eigenen Landsleute kämpfen zu müssen«. 16 von Zur Mühlen, Patrik, a.a.O., S. 64 f. Die Desertionen zurück in die Rote Armee nahmen mit der sich abzeichnenden Niederlage der Deutschen zu.
Die Bedeutung ideologischer Schnittmengen mit den NationalsozialistInnen bleibt unklar. Inwieweit der Antisemitismus und dessen Vernichtungsideologie unter den SS-Feldmullahs verbreitet war, kann nicht rekonstruiert werden. Aus dem existierenden Material lässt sich ausschließlich eine Pragmatische Kollaboration prognostizieren. Die Verbrechen gegen sowjetische Kriegsgefangene durch die Deutschen ließen Kollaboration zu einem Mittel des Überlebens werden. Der Preis bleibt jedoch die Mittäterschaft am Verbrechenssystem.
- 1 Till Schmidt: Die Deutschen als Schutzmacht des Islam. David Motadel, Historiker, im Gespräch über die Islampolitik im »Dritten Reich«. In: Jungle World 28/2018, https://jungle.world/artikel/2018/28/die-deutschen-als-schutzmacht-des-islam .
- 2 Titus Lenk: Die SS-Mullah-Schule und die Arbeitsgemeinschaft Turkestan in Dresden. In: Zukunft braucht Erinnerung. Das Online-Portal zu den historischen Themen unserer Zeit, 2006. https://www.zukunft-braucht-erinnerung.de/die-ss-mullah-schule-und-die-arbeitsgemeinschaft-turkestan-in-dresden/ (zuletzt abgerufen am 20.03.2024).
- 3 Ebenda.
- 4 Victor Klemperer: Tagebücher 1944, Berlin 1999, S. 148 (12. November 1944).
- 5 van Koningsveld, Pieter Sjoerd: The Training of Imams by the Third Reich, in: The Study of Religion and the Academic Training for Muslim Clergy in Europe, Leiden 2008, Appendix: S. 353.
- 6 Fernschreiben von Amin El Husseini an Himmler vom 27.11.1944, in: Höpp, Gerhard (Hg.): Mufti-Papiere. Briefe, Memoranden, Reden und Aufrufe Amin al-Husainis aus dem Exil, 1940 – 1945, Berlin 2001, S. 229
- 7 Heine, Peter: Die Mullah-Kurse der Waffen-SS in: G. Höpp und B. Reinewald (Hg.), a.a.O., S. 184.
- 8 van Koningsveld, Pieter Sjoerd, a.a.O., S. 361.
- 9 Prof. Idris an den General des Freiwilligen-Verbandes im OKH Hauptmann Michel am 19. Januar 1945. Archiv des Institutes für Zeitgeschichte, Film MA 356.
- 10 von Zur Mühlen, Patrik: Zwischen Hakenkreuz und Sowjetstern. Der Nationalismus der sowjetischen Orientvölker im Zweiten Weltkrieg, Düsseldorf, 1971, S. 226ff.
- 11 Matthias Küntzel: Von Zeesen bis Beirut. Nationalsozialismus und Antisemitismus in der arabischen Welt. In: Doron Rabonovici, Ulrich Beck und Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte, Frankfurt am Main, 2004, S 272.
- 12 Ebenda, S. 277.
- 13 Zwischen 1941 und 1945 gerieten weit über 5 Millionen sowjetische Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. 3,2 Millionen Rotarmisten kamen dabei durch Folter, Zwangsarbeit, Hunger oder Kälte ums Leben. Vgl. Christian Streit: Keine Kameraden. Die Wehrmacht und die sowjetischen Kriegsgefangenen 1941–1945, Bonn 1997.
- 14 Angrick, Andrej: Besatzungspolitik und Massenmord. Die Einsatzgruppe D in der südlichen Sowjetunion 1941 – 1943, Hamburg 2003.
- 15 von Zur Mühlen, Patrik, a.a.O., S. 154.
- 16 von Zur Mühlen, Patrik, a.a.O., S. 64 f.