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Literature/Sources:

Jean Améry: »Jenseits von Schuld und Sühne«, in: Jean Améry. Werke. Bd. 2, hg. v. Gerhard Scheit und Irene Heidelberger-Leonard, Stuttgart 2002.
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2003.
Adolf Diamant: Chronik der Juden in Dresden, Darmstadt 1973.
Salomon Korn: Geteilte Erinnerung. Beiträge zur deutsch-jüdischen Gegenwart, Berlin 1999.
Track 2

Eine neue Synagoge

12:58 min / 17.83 MB
Location:

Hasenberg 1, Innenhof der Synagoge; während des Shabbat (Fr–Sa) Fußweg an der offenen Seite des Innenhofes

(13.746440, 51.052060)
Voices:

Jadwiga Stumman, Maren Jung, Jasper Kettner, Sandro Merbd

Suggested citation:

Autor:innenkollektiv audioscript: »Eine neue Synagoge«, in: audioscript zur Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Dresden 1933-1945. Ein Stadtrundgang in 13 Tracks, Track 2. Online unter: https://audioscript.net/tracks/eine-neue-synagoge

Script

Eine Person hantiert im Tonstudio mit verschiedenen Tonaufnahmen.
Es sind die Aufnahme von einer touristischen Führung an der neuen Synagoge in Dresden, Zitate von Jean Améry und ein Bericht von Leo Jehuda Schornstein, dem Sekretär der Jüdischen Gemeinde Dresden zur Zeit der Pogromereignisse am 10. November 1938 in Dresden. Die Person reagiert auf ein Detail in der touristischen Aufnahme. Es wird eine Reflexion angerissen, die durch das Hantieren mit dem Tonmaterial nachvollzogen und unterfüttert wird. Die Person verbindet in einem Selbstgespräch die einzelnen Textstücke miteinander.

(1) Audio-Aufnahme, Führung an der Synagoge

Zu hören ist der Anfang des Bandes, mit dem unsere Person im Studio hantiert. Es ist die Aufnahme einer touristischen Führung an der Synagoge, wir hören Situationsgeräusche vor der Synagoe, die Gruppe findet sich gerade dort ein. Der Referent spricht anfangs nur zu einzelnen Personen, die sich in unmittelbarer Nähe zu ihm befinden, dann zur ganzen Gruppe. Die Person im Studio tritt nicht direkt in Erscheinung.

»Kommen sie näher – ich warte noch einen Moment – so – also – wir stehen jetzt hier vor unserer neuen Synagoge, der Synagoge der Jüdischen Gemeinde der Stadt Dresden. Der Neubau wurde in den Jahren 2000-2001 fertiggestellt und zum 63. Jahrestag der Pogrome von 1938 – am 9. November 2001 - schließlich eingeweiht. Dieser Ort hier ist heute Zentrum des wiederaufblühenden jüdischen Lebens der Stadt. Die Anlage gliedert sich in die Synagoge, das hintere, und das Gemeindezentrum, das vordere Gebäude hier. Die 34 Schichten Formsteinmauerwerk des fensterlosen Würfels drehen sich schraubenförmig nach oben, bis sie die exakte Ausrichtung nach Osten erreicht haben. Das gegenüberliegende Gemeindehaus bildet den Gegenpol zu diesem geschlossenen Würfel. Während die Synagoge als Ort der Kontemplation und Andacht konzipiert ist, bildet seine offene Glasfassade quasi die Nahtstelle zur städtischen Öffentlichkeit. Beide Gebäude umfassen den zentralen Innenhof. Diese Stahlkante zeichnet hier im Boden den Grundriss der früheren Synagoge nach. Fast an gleicher Stelle stand bis November 1938 die alte Synagoge, die Gottfried Semper als Architekt gestaltet hatte. Sie wurde in den Morgenstunden des 10. November 1938 von Nationalsozialisten angegriffen und in Brand gesteckt. Am folgenden Tag noch wurden hier öffentlich vor einer großen Menge Dresdner Bürger viele Gemeindemitglieder durch die Gestapo gedemütigt. Viele sind dann schon in den folgenden Tagen in Konzentrationslager gebracht worden – der gesamte Gemeindevorstand kam zum Beispiel nach Buchenwald. Ein schrecklicher Tag für die Dresdner Juden, der ja für alle Juden in Deutschland den Anfang vom Ende bedeutete. Die ausgebrannte Synagoge wurde dann Mitte November 1938 abgerissen. Die Kosten dafür musste die Jüdische Gemeinde selbst erstatten. Die alten Gemeindehäuser wurden dann bei den Luftangriffen am 13. Februar 1945 zerstört. Aber der Davidstern über dem Eingang der Neuen Synagoge ist noch einer der beiden Davidsterne der alten Synagoge. Der Dresdner Feuerwehrmann Alfred Neugebauer hatte den Stern gerettet und nach dem Krieg der Jüdischen Gemeinde wieder zurückgegeben, was ein großes Glück […].«

(2) Audio-Aufnahme, Zitat Jean Améry

Unsere Person im Studio hantieren mit dem Améry-Material, es wird durch ein minimales technisches Geräusch unterbrochen. Dass wir es mit Tondokumenten zu tun haben, vermittelt sich ausschließlich durch dieses Geräusch, es unterbricht den Text einmal. Der Text setzt genau ein, angekündigt von einem minimalen Knacken.

»Es ist nur wenig ausgesagt, wenn irgendein Ungeprügelter die ethisch-pathetische Fragestellung trifft, daß mit dem ersten Schlag der Inhaftierte seine Menschenwürde verliere. Ich muß gestehen, daß ich nicht genau weiß, was das ist: die Menschenwürde. Der eine glaubt, sie zu verlieren, wenn er in Verhältnisse gerät, unter denen es ihm unmöglich wird, täglich ein Bad zu nehmen. Ein anderer meint, er gehe ihrer verlustig, wenn er vor einer Behörde eine andere als seine Muttersprache sprechen muß. Hier ist die Menschenwürde an einen bestimmten physischen Komfort gebunden, dort an freie Meinungsäußerung, in einem noch weiteren Fall vielleicht an die Zugänglichkeit gleichgeschlechtlicher erotischer Partner. Ich weiß also nicht, ob die Menschenwürde verliert, wer von Polizeileuten geprügelt wird. Doch bin ich sicher, daß er schon mit dem ersten Schlag, der auf ihn niedergeht, etwas einbüßt, was wir vielleicht vorläufig das W e l t v e r t r a u e n nennen wollen. W e l t v e r t r a u e n.« 1 Jean Améry: »Die Tortour«, in ders., in: »Jenseits von Schuld und Sühne«, in: Jean Améry. Werke, Bd. 2, hg. v. Irene Heidelberger-Leonard, Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, S. 65, (Hervorhebung vom Autor:innenkollektiv audioscript)

Geräusch: Band wird vorgespult

»Wer der Folter erlag, kann nicht mehr heimisch werden in der Welt. Die Schmach der Vernichtung läßt sich nicht austilgen. Das zum Teil schon mit dem ersten Schlag, in vollem Umfang aber schließlich in der Tortour eingestürzte W e l t v e r t r a u e n wird nicht wiedergewonnen. Daß der Mitmensch als Gegenmensch erfahren wurde, bleibt als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht. Der gemartert wurde, ist waffenlos der Angst ausgeliefert. Sie ist es, die fürderhin über ihm das Szepter schwingt. Sie - und dann auch das, was man die Ressentiments nennt. Die bleiben und haben kaum die Chance, sich in schäumend reinigendem Rachedurst zu verdichten.« 2 Ebd. S. 85, (Hervorhebung vom Autor:innenkollektiv audioscript)

Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne, 1966, »Die Tortour«.

(3) Audio-Aufnahme, Führung an der Synagoge, rewind 1

Ohne auf das Améry-Stück einzugehen, gibt es einen Sprung zurück zur Aufnahme der touristischen Führung, mittels längerem technischen Geräuschs. Ein kurzer Ausschnitt davon ist erneut zu hören, gefolgt von einem abrupten Abbruch der Aufnahme.

»… in den Morgenstunden des 10. Novembers 1938 von Nationalsozialisten angegriffen und in Brand gesteckt. Am folgenden Tag noch wurden hier öffentlich … .«

(4) Selbstgespräch

Unsere Person im Studio tritt erstmals durch wörtliche Rede in Erscheinung, wir erkennen die Situation, dass sie verschiedenes Tonmaterial sichtet. Ihr erster Anknüpfungspunkt ist die Textstelle »die Nationalsozialisten«.

»Hhhhm. Die guten Deutschen und die bösen Nazis. Die Nationalsozialisten sind so schön benennbar. Die Nazis haben die Synagoge angezündet. Nur geht es hier nicht um das komplette Versagen von Zivilität. In solcher Rede vielleicht genauso, wie seinerzeit schon zugesehen wurde, wie die Nazis die Synagoge angezündet hatten.

Adorno zu zitieren scheint angebracht:

›Der Antisemitismus ist ein eingeschliffenes Schema, ja ein Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde. In ihnen wird die Ohnmacht dessen demonstriert, was ihnen Einhalt gebieten könnte, der Besinnung, des Bedeutens, schließlich der Wahrheit. Im läppischen Zeitvertreib des Totschlags wird das sture Leben bestätigt, in das man sich schickt.‹« 3 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung«, in dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2003, S.180.

(5) Aufnahme, Zitat Jean Améry

Unsere Person im Studio kramt nach einem, diesen Gedanken unterstützenden, Améry-Zitat. Es ist ebenfalls eine Tonaufnahme.

Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne, 1966, »Die Tortour«

«Die Hilfserwartung, Hilfsgewißheit gehört ja in der Tat zu den Fundamentalerfahrungen des Menschen und wohl auch des Tieres, […]
Nur einen Augenblick, sagt die Mutter zu dem von Schmerzen stöhnenden Kind, es kommt gleich eine heiße Flasche, eine Schale Tee, man wird dich nicht so leiden lassen! Ich verschreibe ihnen ein Medikament, versichert der Arzt, es wird Ihnen helfen. Selbst auf dem Schlachtfeld finden die Rotkreuzambulanzen ihren Weg zum Verletzten. In nahezu allen Lebenslagen wird die körperliche Versehrung zusammen mit der Hilfserwartung empfunden: jene erfährt Ausgleich durch diese. Mit dem ersten Schlag der Polizeifaust aber, gegen den es keine Wehr geben kann und den keine helfende Hand parieren wird, endigt ein Teil unseres Lebens und ist niemals wieder zu erwecken.«
4 Jean Améry: »Die Tortour«, in: ders.: »Jenseits von Schuld und Sühne« (1966), in: Jean Améry, Werke , hg. von Irene Heidelberger-Leonard, Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, S. 67.

(6) Selbstgespräch

»… so dass im Ritualmord des Antisemitismus diese Fundamentalerwartung des Menschen an der Zivilisation selbst scheitert. Ein Beispiel: Leo Jehuda Schornstein geschlagen, gescheitert an, gescheitert inmitten bürgerlichster Dresdner Öffentlichkeit am Morgen nach den Pogromen, am 10. November 1938 im Gemeindeamt der jüdischen Gemeinde an der Synagoge.«

(7) Audio-Aufnahme, Zitat Leo Jehuda Schornstein

«Mir wurde ein Gebetsmantel über den Kopf gestülpt, man gab mir zwei silberne Thorakronen in die Hand, schob mich an das zur Straße führende Fenster und ›schaukelte‹ mich mit Schlägen im Fenster hin und her, wobei die unten stehende Volksmenge in frenetisches Johlen ausbrach. Diese Prozedur mußte ich noch auf einem Stuhl stehend mehrmals wiederholen, wobei sich der Mob auf der Straße noch mehr ergötzte. Nach dieser ›Volksbelustigung‹ durfte ich mich setzen. Es war nun gegen Mittag. Um 1.00 Uhr kam ein Polizei-Lastauto, und die SS- und Gestapo-Männer luden die Gemeindeakten- und Karteien sowie die Kultgegenstände auf und fuhren weg. Um 2.00 Uhr kam das Gefängnisauto, die sogenannte ›Grüne Minna‹, und wir wurden abtransportiert.« 5 Bericht von Leo Jehuda Schornstein vom 26. Juli 1970 an Adolf Diamant, in: Adolf Diamant: Chronik der Juden in Dresden. Darmstadt 1973, S. 405 ff.

(8) Audio-Aufnahme, Führung an der Synagoge, rewind 2

Unsere Person im Studio widerholt eine Stelle des Tonmaterials, etwas, was bei der Führung gesagt wurde.

»… wir stehen jetzt hier vor unserer Neuen Synagoge, der …«

(9) Selbstgespräch

Die Person im Studio reagiert und kommentiert die Passage von der Führung an der Synagoge.

»Und heute ist die Synagoge eben wieder unsere Synagoge, die Nazis und unsere Synagoge.
Jahr für Jahr am 13. Februar, dem Jahrestag der Bombardierung 1945 demonstrieren tausende Neonazis durch die Stadt. Und während man sich Jahre in Ignoranz dieser eher peinlich gefundenen ›Trauermärsche‹ übte, sind Heute Synagoge und Gemeindezentrum perfekter Ort für ein Bekenntnis gegen Nazis. Zivilgesellschaft Kulisse des Zivilen für eine Dresdener Bürgerschaft sich aufzustellen, für Frieden, Toleranz oder Courage zu demonstrieren. Man könnte schon fast meinen, dass die Neue Synagoge in den letzten Jahren einen neuen Mehrwert generiert. Das Bedürfnis der Distanzierung vom Rechtsextremismus sucht den zentralen Ort jüdischen Lebens der Stadt, gerade in seiner neu entstandenen Architektur, auch als Zeichen neu aufblühenden, jüdischen Lebens in der Stadt. Dieser ›Neuen Nützlichkeit‹, die doch nur eine Alte ist und für die Salomon Korn schon 1999 den zynischen Begriff der Funktions-Juden 6 Salomon Korn: Geteilte Erinnerung. Beiträge zur deutsch-jüdischen Gegenwart, 1999. (Salomon Korn war von 2003 bis 2014 Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland) gebrauchte, liegt doch nichts anderes zugrunde als der Wunsch, die Dresdner als ein geschlossenes demokratisches Kollektiv darzustellen – geschichtsbewusste Bewältiger der nationalsozialistischen Stadtgeschichte.

Salomon Korn – Mitglied des Präsidiums des Zentralrates der Juden in Deutschland«

nachdenkliche Pause

»Dieses Bild vergisst viel:

Der Bau der Synagoge war durch wenige gestützt. Ablehnendes Raunen zog durch breite Bevölkerungskreise. Manche fragten sogar, warum die Juden ihre Synagoge nicht selbst bezahlten, wenn sie eine wollten. Was kann die Rede davon meinen, dass Dank der Zuwanderung osteuropäischer Juden die Gemeinde Heute wieder mehr als 700 statt 41 Mitglieder umfasst, wie noch unmittelbar nach ›45. Die Jüdische Kultur der Stadt kann nur durch ein Wieder beschrieben werden – das Hiersein osteuropäischer Juden als Beweis für ein Wieder, als Prüfstein für die demokratischen Qualitäten einer postfaschistischen Gesellschaft? Fernab tagespolitischer Nützlichkeit fällt konkretes jüdisches Leben dieser Stadt weit in den Hintergrund. Im Nebel der heute gerne getanen pauschalen Schuldbekenntnisse bleibt konkrete Täterschaft sowieso unbenannt. Eine jüdische Gemeinde von 700 Mitgliedern bedeutet keine Absolution. Über die Unmöglichkeit von Vergebung und in diesem Fall, die Unmöglichkeit um Vergebung zu bitten, muss nachgedacht werden.«

(10) Audio-Aufnahme, Zitat Jean Améry

Unsere Person im Studio sucht in den Audio-Aufnahmen von Améry nach einer Textstelle, die zu ihren Gedanken vielleicht passt. Eine Stelle wird angespielt, unterbrochen, es wird vorgespult, dann hören wir ein längeres Textstück.

Jean Améry in Jenseits von Schuld und Sühne, 1966, »Ressentiments«

«Man sprach viel von der K o l l e k t i v s c h u l d der Deutschen. Es wäre glatte Wahrheitsbeugung, gestände ich hier nicht ohne alle Bemäntelung ein, daß es mir recht war so. Mir schien als hätte ich die Untaten als kollektive erfahren: […]« 7 Jean Améry: »Ressentiments«, in: ders.: »Jenseits von Schuld und Sühne« (1966), in: Jean Améry. Werke. Band 2, hg. von Irene Heidelberger-Leonard, Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, S.122. (Hervorhebung vom Autor:innenkollektiv audioscript)

«K o l l e k t i v s c h u l d. Das ist natürlich blanker Unsinn, sofern es impliziert, die Gemeinschaft der Deutschen habe ein gemeinsames Bewußtsein, einen gemeinsamen Willen, eine gemeinsame Handlungsinitiative besessen und sei darin schuldhaft geworden. Es ist aber eine brauchbare Hypothese, wenn man nichts anderes darunter versteht als die objektiv manifest gewordene Summe individuellen Schuldverhaltens. Dann wird aus der Schuld jeweils einzelner Deutscher - Tatschuld, Unterlassungsschuld, Redeschuld, Schweigeschuld - die Gesamtschuld eines Volkes. Der Begriff der Kollektivschuld ist vor seiner Anwendung zu entmythisieren und zu entmystifizieren. So verliert er den dunklen Schicksalhaften Klang und wird zu dem, als das er allein zu etwas nütze ist: zu einer vagen statistischen Aussage.« 8 Ebd. S. 134. (Hervorhebung vom Autor:innenkollektiv audioscript)

ENDE