Deutsches Hygiene-Museum Dresden
»Wenn ich mir und der Welt (…) sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.«*
Lingnerplatz 1, Foyer des Museums oder vor dem Haupteingang des Museums
(13.7470, 51.04410)Maren Jung, Sandro Merbd, Till
Autorinnenkollektiv audioscript: »Wenn ich mir und der Welt (…) sage: ich bin Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.«, in: audioscript zur Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Dresden 1933-1945. Ein Stadtrundgang in 13 Tracks, Track 2. Online unter: https://audioscript.net/tracks/eine-neue-synagoge
Script
(1) Hygiene-Museum
Satzung »Verein Deutsches Hygiene-Museum e.V.«, 14.6.1935
»Das Museum (…) soll das Verständnis für das bevölkerungspolitische Programm der NSDAP und damit des nationalsozialistischen Staates in engster Zusammenarbeit mit den Gliederungen der Partei, den Behörden, der deutschen Ärzteschaft und der deutschen Arbeitsfront im In- und Ausland wecken und in weitesten Volkskreisen aufklärend wirken.«
(2) Améry-Text
Aus dem Essay von Jean Améry: Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein:
»Wenn heute Unbehagen in mir aufsteigt, sobald ein Jude mich mit legitimer Selbstverständlichkeit einbezieht in seine Gemeinschaft, dann ist es nicht darum, weil ich kein Jude sein will: nur weil ich es nicht sein kann. Und es doch sein muß. Und mich in diesem Müssen nicht bloß unterwerfe, sondern es ausdrücklich anfordere als einen Teil meiner Person. Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein, das ist es, was mir eine undeutliche Pein schafft. Von diesem Zwang, dieser Unmöglichkeit, dieser Drangsal, diesem Unvermögen habe ich hier zu handeln (…)
Von der Unmöglichkeit zuvor. Wenn Jude sein heißt, mit anderen Juden das religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischer Kultur- und Familientradition, ein jüdisches Nationalideal zu pflegen, dann befinde ich mich in aussichtsloser Lage. Ich glaube nicht an den Gott Israels. Ich weiß sehr wenig von jüdischer Kultur. Ich sehe mich, einen Knaben, Weihnachten zur Mitternachtsmette durch ein verschneites Dorf stapfen; ich sehe mich in keiner Synagoge«
(3) Amino-Text
Erstmals beschrieben wurde die Nukleinsäure von dem Schweizer Mediziner Friedrich Miescher im Jahr 1869. Erst 1929 erkannte Phoebus Levene, dass die Nukleinsäure aus Desoxyribose, Phosphorsäureresten und den vier organischen Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Thymin besteht. 1944 konnten Oswald Avery, Colin McLeod und Maclyn McCarty nachweisen, dass Nukleinsäuren die Speicher der Erbinformation sind. Der strukturelle Aufbau der DNA wurde erstmals 1953 vom US-Amerikaner James Watson und dem Briten Francis Crick in ihrem berühmten Artikel Molecular structure of nucleic acids. A structure for desoxyribose nucleic acid beschrieben.
(4) Améry-Text
»Meint also Jude sein einen kulturellen Besitz, eine religiöse Verbundenheit, dann war ich keiner und kann niemals einer werden. Freilich, es ließe sich einwenden, daß ein Besitz sich erringen, eine Bindung sich eingehen läßt und das demnach Jude sein die Sache sein könnte eines freien Entschlusses. Wer würde mich wohl daran hindern, die hebräische Sprache zu erlernen, jüdische Geschichte zu lesen, auch ohne Glauben teilzunehmen an dem zugleich religiösen und nationalen jüdischen Ritual? Ich könnte, wohlversehen mit aller gebotenen jüdischen Kulturkenntnis von den Propheten bis zu Martin Buber, nach Israel auswandern und mich Jochanaan nennen. Ich habe die Freiheit mich als einen Juden zu wählen, und sie ist meine ganz persönliche und allgemeine menschliche Ehre. So wird mir versichert.
Habe ich sie denn aber auch wirklich? ich glaube nicht. Wäre denn Jochanaan, stolzer Träger einer neuen selbstgewordenen Identität, durch seine supponierte gründliche Kenntnis des Chassidismus wohl davor gefeit, am 24. Dezember an einen Weihnachtsbaum mit vergoldeten Nüssen zu denken? Würde der fließend des Hebräischen sich bedienende, aufrechte Israeli so völlig den weißbestrumpften, einen bodenständigen Dialekt forcierenden Jüngling auslöschen können? Der Identitätswechsel, ein so anregendes Spiel in der modernen Literatur, in meinem Fall jedoch eine Herausforderung, vor der man in seiner menschlichen Totalität ohne den Ausweg einer Zwischenlösung besteht oder nicht - mir scheint, es hätte alle Voraussetzungen des Mißlingens. Man kann an eine Tradition, die man verloren hat, wieder anknüpfen. Man kann sie aber nicht frei für sich erfinden, das ist es. Da ich kein Jude war, bin ich keiner; und da ich keiner bin werde ich keiner sein können. (…)«
(5) Amino-Text
»Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die spezifische Paarbildung, die wir vorschlagen, sogleich an einen möglichen Kopiermechanismus für das genetische Material denken läßt. It has not escaped our notice that the specifc pairing we have postulated immediately suggests a possible copying mechanism for the genetic material.«
(6) Améry-Text
»So ist es mir denn nicht erlaubt, Jude zu sein. Kann ich aber, da ich es doch sein muß und dieses Müssen mir die Wege verlegt, auf denen ich anderes als Jude sein dürfte, mich überhaupt nicht finden? Muß ich es denn abmachen, ohne Geschichte, als Schatten des Universell-Abstrakten, das es nicht gibt, und mich flüchten in die Leerformel, ich sei eben ein Mensch? Abwarten. Wir sind noch nicht so weit. Da der Zwang da ist - und wie gebieterisch!—, wird sich vielleicht auch die Unmöglichkeit auflösen lassen. Man will doch leben, ohne sich zu verbergen, wie ich es in der Illegalität tat, und ohne sich ins Abtrakte zu verflüchtigen. Ein Mensch? Gewiß doch, wer wollte es nicht sein. Nur ist man Mensch erst, wenn man Deutscher, Franzose, Christ, Angehöriger einer beliebigen definierbaren sozialen Gemeinschaft ist. Ich muß Jude sein und werde es sein, ob mit oder ohne Religion, innerhalb oder außerhalb einer Tradition, ob Jean, Hans oder Jochanaan. (…)
Es begann nicht damit, daß (…)
Es fing erst an, als ich 1935 in einem Wiener Café über einer Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetzte studierte. Ich brauchte sie nur zu überfliegen und konnte mir schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellsschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den durchaus die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form und mit aller Deutlichkeit zum Juden gemacht, beziehungsweise sie hatte meinem früher schon dagewesenem Wissen, daß ich Jude sei, eine neue Dimension gegeben.
(Welch eine?) Keine aufs erste auslotbare. Ich war, als ich die Nürnberger Gesetzte gelesen hatte nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. Meine Gesichtszüge waren nicht mediterransemitischer geworden, meine Assoziationsbereich war nicht plötzlich durch Zauberkraft aufgefüllt mit hebräischen Referenzen, der Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen Leuchter. Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil
P a u s e
Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil einen greifbaren Sinn hatte, konnte es nur bedeuten, ich sei fürderhin dem Tode ausgesetzt. Dem Tode. Nun, dem gehören wir alle an, über kurz oder lang. Aber der Jude, als der ich durch Gesetzes- und Gesellschaftsbeschluß jetzt dastand, der war ihm enger versprochen schon mitten im Leben, dessen Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist. Ich glaube nicht, daß ich unstatthafterweise Auschwitz und die Endlösung schon ins Jahr 1935 rückprojiziere, wenn ich heute diese Überlegungen anstelle. Vielmehr bin ich gewiß, daß ich in der Tat in diesem Jahr, in diesem Augenblick der Gesetzeslektüre die Todesdrohung, richtiger: das Todesurteil schon vernahm, (…)«
(7) Amino-Text
Eine Kombination von drei Basen, ein sogenanntes Basentriplett oder Codon, ergibt die erforderliche Zahl von mindestens 20 »Codewörtern«, nämlich vier hoch drei also 64. Die Zahl der möglichen Tripletts übersteigt damit die Zahl der zu codierenden Aminosäuren bei weitem. Man fand aber heraus, dass es für fas alle Aminosäuren nicht nur ein Codewort, sondern zwei oder mehrere gibt. Umgekehrt codiert jedes Triplett nur eine Aminosäure.
(8) Améry-Text
Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub sein, ein zu Ermordender, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte, und dabei ist es in vielen Varianten, in manchen Intensitätsgraden bis heute geblieben. In der Todesdrohung, die ich zum erstenmal in voller Deutlichkeit beim Lesen der Nürnberger Gesetze verspürte, lag auch das, was man gemeinhin die methodische »Entwürdigung« der Juden durch die Nazis nennt. Anders formuliert: der Würdeentzug drückte die Morddrohung aus. (…)