Literature/Sources:
»Geländebewahrer«
Das Judenlager am Hellerberg
Radeburger Straße, Ecke Weinbergstraße
(13.737884958713042, 51.09022936146158)Jadwiga Stummann, Angela Stuhrberg, Robert Thiele, Svea Duwe, Jasper Kettner
Autor*innenkollektiv audioscript: »Geländebewahrer«. Das Judenlager am Hellerberg, in: audioscript zur Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Dresden 1933-1945. Ein Stadtrundgang in 13 Tracks, Track 13. Online unter: https://audioscript.net/tracks/hellerberg
Script
Sprecher*in 1:
Für die Brache: Sie ist ungenutztes Land, offene Möglichkeiten, Plattform für Ideen und spontane Raumbesetzung. Sie ist leeres Blatt, ungeschönte Ehrlichkeit in wandelnden Zuständen. Die Brache repräsentiert das Unorganisierte und Unüberwachte. Hier gilt die Abwesenheit von Regeln und angenehmer Stillstand. Hier existiert kein Geschlecht, keine Arbeit, keine Unterdrückungsverhältnisse. Jede Brache ist Herausforderung, Inspiration und Möglichkeit vielfältiger flüchtiger Nutzung ohne Festlegung. Der Ort trifft keine Zeitvorgaben, keine kapitalistischen Tempomaßstäbe. Die Brache ist scheinbar vergangenheitslos und suggeriert einen permanenten Umbruch. Die Brache ist Ort der Utopie.
Gegen die Brache: Sie repräsentiert die Abwesenheit von Regeln im negativen Sinne, nicht zugunsten einer Utopie, sondern als Negation des Zivilisatorischen. Sie produziert Angsträume und schafft die Assoziation vom Verbrechen. Sie ist außerhalb eines sozialen Gefüges, ignorant und potentiell kapitalistisch verwertbarer Raum. Die Brache provoziert die stadtplanerische Frage nach einer möglichen funktionalen Nutzung. Sie verschleiert ihre Geschichte und ihre Zukunft. Sie ist die Zurschaustellung von Gedankenlosigkeit. Sie macht sich zur Komplizin derer, die Geschichte verdrängen, vergessen, verleugnen. Sie schweigt sich aus. Die Brache ist Ort ohne Utopie.
»Im November 1942 wurde der ›Kindergarten‹ von Zeiss-Ikon zum auswärtigen Arbeitseinsatz auf den Hellerberg, am Stadtrand von Dresden, geschickt. In Baracken standen dort Holzpritschen übereinander. Wir mußten dort als Unterlagen Strohsäcke stopfen und zunähen. Es war offensichtlich, daß hier ein Lager eingerichtet wurde, doch wir hatten keine Ahnung, für wen. Wir dachten, vielleicht für französische Kriegsgefangene. Erst als einige Wochen später alle Juden, mit Ausnahme der in Mischehe Lebenden, aus den Judenhäusern herausgetrieben wurden, wurde uns klar, daß dies für unsere eigenen Leute gedacht war.« 1 Henny Brenner: Das Lied ist aus. Dresden 2005, S. 67
Sprecher*in 2:
Am 10. November 1942 trafen sich Vertreter der Zeiss Ikon AG, der Gestapo und der NSDAP-Kreisleitung, um die Einrichtung eines Barackenlagers auf dem Dresdner Hellerberg zu planen. Dorthin sollten die noch in Dresden verbliebenen und im von Zeiss Ikon betriebenen Goehle-Werk zur Zwangsarbeit verpflichteten Jüdinnen und Juden verbracht werden.
Nachdem es nicht gelungen war, anderweitig Baracken oder Materialien für den Neubau eines solchen Lagers zu beschaffen, hatte Zeiss Ikon das werkseigene Materiallager auf der Dr.-Todt-Straße, der heutigen Radeburger Straße, knapp außerhalb der Stadtgrenze zur Verfügung gestellt. Die verantwortlichen Personen waren folgende. Für die Geschäftsleitung der Zeiss Ikon: Dr. Johannes Hasdenteufel, der Betriebsleiter des Goehle-Werkes auf der Großenhainer Straße Wilhelm Stoffers, sein Stellvertreter Karl Nitsche, der Abteilungsleiter Optik Friedrich Hempel sowie Werner Rieß als Korrespondent. Für die Gestapo: Kommissar Henry Schmidt und Obersekretär Rudolf Müller. Und für die NSDAP-Kreisleitung: Herr Köhler.
Das Protokoll dieses Treffens sah vor, dass Zeiss Ikon Einrichtungsgegenstände wie Bettgestelle und Schränke bereitstellen würde, die Jüdinnen und Juden hingegen hatten das Lager mit einem Pro-Kopf-Anteil an mitgebrachtem Hausrat sowie mit der Einrichtung des Krankenzimmers und der Büroräume zu bestücken. Darüber hinaus mussten sie, zunächst für die ersten zwei Monate, einen Mietpreis von 60 Reichspfennig pro Kopf und Tag an Zeiss Ikon zahlen. Lebensmittel für das Lager sollten ihnen am Monatsende in Rechnung gestellt werden.
Das Protokoll endet mit der Festlegung des sogenannten Einzugstermins in das Lager: dem 23. November 1942.
Sprecher*in 1:
»Auch die meisten meiner Kollegen wohnten nun im Lager und marschierten jeden Tag zu Zeiss-Ikon, darunter meine Tante und mein Onkel, die Rauchs. Sie alle warteten dort auf ihre Deportation. Der Hellerberg war eine Art Zwischenlager für die 300 Juden, die im März 1943 nach Auschwitz deportiert wurden. Als das Lager am Hellerberg sich wieder leerte, blieben nur noch die in Mischehe lebenden Juden und deren Kinder in Dresden zurück.«
2
Henny Brenner: Das Lied ist aus. Dresden 2005, S. 67
»Wenn jemand zur Gestapo bestellt wurde, dann wartete immer ein Angehöriger in der Nähe, um ihn nach der Vorladung nach Hause zu bringen. Manchmal haben wir auch gleich Tote dort abgeholt. Dies alles nahm ein Ende, als man uns alle aus den Wohnungen heraussetzte und nach dem Barackenlager am Hellerberg brachte. Wir haben uns im Lager sehr gut vertragen. Es gab wenig Krankheiten und nur einen Toten in der ganzen Zeit. Eine Schneiderei, Schuhmacherei und einen Friseur hatte man auch eingerichtet. Ich wünschte, man hätte uns bis Kriegsende dort gelassen. Alle würden noch leben.« 3 Heinz Mayer: Am Beispiel Dresdens, in: Gerhard Schoenberner: Wir haben es gesehen. Hamburg 1962, S. 413 bis 417, hier S. 413
»Es ist gar zu jämmerlich, daß diese Gefangenschaft schon als ein halbes Glück gilt. Es ist nicht Polen, es ist nicht das KZ! Man wird nicht ganz satt, aber man verhungert nicht. Man ist noch nicht geprügelt worden. Usw. usw.« 4 1942, 1. Dezember, Dienstag vormittag, in: Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, Berlin 1999
Sprecher*in 2:
Dass die Deportation aller in diesem Lager konzentrierten Menschen von vornherein feststand, ist bereits im Protokoll notiert. Der Sinn der Einrichtung stand für alle an ihrer Planung Beteiligten fest: Die Kreisleitung verfolgte die Vertreibung der jüdischen Bevölkerung aus ihren Wohnungen sowie ihre Isolierung von der sogenannten arischen Bevölkerung: Nach der Einrichtung des Lagers konnte Dresden als praktisch »judenrein« bezeichnet werden.
Für die Gestapo eröffneten sich mit der angestrebten zentralen Kasernierung der Jüdinnen und Juden optimale Überwachungsbedingungen.
Der Konzern schließlich verfügte so über Arbeitskräfte ganz in seiner Nähe.
Am 23. November 1942 mussten sich die 279 betroffenen Personen an der Städtischen Entseuchungsanstalt in der Fabrikstraße 6 einfinden und sich einer entwürdigenden Desinfektion unterziehen, bei der sie gefilmt wurden. Die anschließende Verlegung in das Lager auf dem Hellerberg zog sich noch bis zum 24. November hin.
Das in einer Sandgrube gelegene Lager bestand aus einer Gemeinschafts- und sechs Unterkunftsbaracken mit wiederum drei Räumen für je sechzehn Menschen. Ehepaare wurden zusammen, ledige Frauen, Männer und Kinder ab vier Jahren nach Geschlecht getrennt untergebracht. Die Bewachung des Lagers besorgte eine Dresdner »Wach- und Schließgesellschaft«. Es gab festgelegte Ausgeh- und Sperrzeiten, die besagten, dass für dringende Arztbesuche etwa, oder Verwaltungsgänge, von der Lagerleitung Passierscheine besorgt werden mussten.
Zu den Zwangsarbeitszeiten hingegen musste das Gelände regelmäßig verlassen werden, um in etwa zwanzig Minuten Fußmarsch die Werkhallen des Goehle-Werkes zu erreichen.
Sprecher*in 1:
»Ich weiß nur, daß wir zusätzliches Essen bekamen, von einem vorigen Dienstmädchen, die bei uns […] zu Hause war, nicht Dienstmädchen, sie gehörte zur Familie. Und diese tapfere Frau brachte uns Sachen, die sie irgendwo erstanden hatte oder bekam – in der Mitte der Nacht. Sie fuhr mit der letzten Straßenbahn zur Endhaltestelle, ging in einen Wald, verharrte dort bis es ungefähr 2 Uhr nachts war, traf mich an diesen Zäunen, weil in der Judensiedlung waren sie nicht elektrisch geladen, und reichte mir alles durch und blieb dann noch im Wald bis zum Frühstück oder bis der Morgen einbrach und dann nahm sie die erste Straßenbahn zurück.«
5
Henry Meyer in: »Der glückliche zweite Geiger”. Feature von Michael Schulte. Vorläufiges Manuskript. S. 8. Sendung: 09.07.1997 Mitteldeutscher Rundfunk.
Sprecher*in 3:
Das kann doch nicht wahr sein! Typisch Dresden hier! Hier sieht man ja gar nichts mehr! Da kannst du genau sehen, dass diese Stadt ihr ganzes Erinnerungspotential im Wiederaufbau der Frauenkirche erschöpft hat, und so ein Ort hier egal ist.
Sprecher*in 4:
Was soll man denn deiner Meinung nach hier sehen?
Sprecher*in 3:
Na, entweder Reste des Lagers oder wenigstens eine Art von Denkmal – eine Plakette, einen Stein, eine Skulptur – einfach irgendwas! Stattdessen ist hier nur Brachland, alles zugewachsen, und wäre da unten im Haltestellenhäuschen nicht dieses Plakat, würde man nie darauf kommen, dass hier das Judenlager am Hellerberg war.
Sprecher*in 1:
»Sicher helfen die ausgehängten Bilder, die schriftlich angeführten Daten und Fakten […]. Aber das KZ als Ort? Ortschaft, Landschaft, landscape, seascape – das Wort Zeitschaft sollte es geben, um zu vermitteln, was ein Ort in der Zeit ist, zu einer gewissen Zeit, weder vorher noch nachher.«
6
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1993, S. 78
Sprecher*in 4:
Klar, dass hier nichts ist, repräsentiert erst einmal eine Haltung der Stadt. Dieser unwirtliche Fleck, direkt an einer viel befahrenen Straße und mit Werbung bestückt – das ist alles andere als ein Ort des Gedenkens. Aber andererseits entzieht er sich durch das Fehlen einer Architektur auch der gängigen Erinnerungspraxis.
Sprecher*in 3:
Was meinst du denn damit? Ist es nicht wichtig, dass authentische Orte der Verfolgung und Vernichtung als solche gekennzeichnet sind und für die Öffentlichkeit zugänglich?
Sprecher*in 4:
Naja, mal abgesehen davon, dass es keine ausgewiesenen Orte der Verfolgung und Vernichtung gibt, weil Verfolgung und Vernichtung überall stattgefunden haben, meine ich damit nicht, dass eine Kennzeichnung und Thematisierung nicht notwendig wäre. Aber ich bin skeptisch, weil Gedenkstätten auch den Denkprozess der Besucher*innen beeinflussen.
Sprecher*in 3:
Hä? Wie?
Sprecher*in 4:
Na, die Gedenkstätten entziehen sich eben nicht der Logik der Täter. Also, wer in so einer Gedenkstätte steht, kann über deren Prinzip einfach schlecht hinausdenken.
Sprecher*in 3:
Aber würde man die Anlagen der Nazis nicht erhalten, wären doch Holocaustleugnern Tür und Tor geöffnet, oder nicht?
Sprecher*in 4:
Klar, ich plädiere ja auch nicht dafür, im wahrsten Sinne des Wortes Gras über die Sache wachsen zu lassen. Pass auf, ich hab ein gutes Beispiel:
Letztens habe ich mit anderen Historikerinnen an einer Führung durch die Gedenkstätte Auschwitz teilgenommen, und eine der Teilnehmerinnen hat sich von der Architektur des Lagers dazu hinreißen lassen, eine effektivere Lösung für die Gestaltung der Zugangswege zur Gaskammer vorzuschlagen. Ich meine, sie hat nicht das Projekt der Vernichtung in Frage gestellt, sondern fand es unmenschlich, den zum Tode Geweihten das Antlitz der Gaskammer vor ihrem Tod zu präsentieren, indem man die Juden und Jüdinnen zwang, frontal auf den Eingang der Gaskammern zuzugehen. Sie schlug nun eine Kurve vor, die den Anstehenden den folgenden Schrecken erst unmittelbar vor dem Eintritt in die Gaskammer preisgibt. Dabei war noch nicht mal klar, ob sie die Opfer der Vernichtung vor Panik schützen wollte oder dem SS-Personal einen einfacheren Dienst wünschte. Stell dir mal vor: Mehr als sechzig Jahre später unterwirft sich jemand der Rationalität der Vernichtung! Hier geht es dann nicht mehr um Antisemitismus und eine eliminatorische Ideologie, die KZs überhaupt erst möglich macht.
Sprecher*in 3:
Ach so! Das seh ich ein. Aber das spricht definitiv nicht gegen ein Denkmal zur Erinnerung an das Schicksal der hier konzentrierten Jüdinnen und Juden. Es könnte wenigstens ein Stein aufgestellt werden, auf dem die Geschichte nachlesbar ist, der die Opfer betitelt und eine Mahnung an folgende Generationen wäre. Immerhin überdauert ein Gedenkstein ja die Generation der Überlebenden.
Sprecher*in 1:
»An den Ort, den ich gesehen, gerochen und gefürchtet habe und den es jetzt nur noch als Museum gibt, gehör ich nicht hin, hab dort niemals hingehört. Ein Ort für Geländebewahrer.«
7
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1993, S. 138
»wir betraten das Hauptgebäude, das Museum, das früher, wie auf einem Schild stand, das Krankenhaus gewesen war, wo man Experimente an Menschen durchgeführt hat, aber von diesem Hinweis mal abgesehen war alles ordentlich präsentiert und arrangiert, korrekt, nüchtern und intelligent, Diese beschissenen Deutschen haben es tatsächlich geschafft, sagte ich zu Marcowsky, eine nette Mischung aus Anstand und Hygiene, ein ausgeprägtes Gefühl für das Tragische, aber ohne den Schrecken, wie es sich gehört, und dennoch« 8 Raymond Federman: Die Nacht zum 21. Jahrhundert oder Aus dem Leben eines alten Mannes, Nördlingen 1988, S. 144
Sprecher*in 4:
Denkmäler haben ja immer eine lehrhafte Funktion. Außerdem sind sie Identitätsvergewisserungen einer Gemeinschaft und tragen ganz klare Botschaften. Aber als Träger von persönlicher Erinnerung sind sie eher ungeeignet, weil sie eine Auseinandersetzung durch Materie ersetzen wollen. In der Kunst gibt es da schon interessantere Ansätze. Da wird nicht mehr nur die Vergangenheit erinnert, sondern auch die Gegenwart zur Auseinandersetzung herangezogen. Erinnere dich doch bitte an den Vorschlag von Horst Hoheisel für das Denkmal der ermordeten Juden Europas in Berlin. Der hieß »Sprengt das Brandenburger Tor in die Luft« und schlug damals den Abriss des Brandenburger Tores vor. Es sollte zerstört und zu Staub zermahlen werden und das Gelände versiegelt.
Sprecher*in 3:
Na, eins ist klar: Da wäre ein Aufschrei durch Deutschland gegangen! Die Empörung über das zerstörte Nationalsymbol!
Sprecher*in 4:
Ja, ja! An welche Argumente hätte man sich geklammert, wenn es den Millionen ermordeten Menschen gegenübergestellt worden wäre! Es regte sich beim Mord an Millionen kaum Aufbegehren und Widerstand. Bei der Zerstörung des Brandenburger Tores hätte man wahrscheinlich mit Bürgerinitiativen, Lichterketten und Hungerstreiks rechnen müssen!
Sprecher*in 3:
Hm. Aber zum Hellerberg gibt es ja noch nicht mal eine Debatte oder einen Entwurf. Das einzige, was hier im Moment die Funktion eines Gedenkens erfüllt, ist der Film »Die Juden sind weg« von Ernst Hirsch, der die Geschichte Lagers nachzeichnet. Und der ist doch zeitgemäßer, oder? Er ist nicht an Ort oder Zeit gebunden und die Überlebenden kommen zu Wort und äußern sich sogar zum Antisemitismus im heutigen Deutschland.
Sprecher*in 1:
»Als ich 1942 die Strohsäcke im Lager Hellerberg stopfen mußte, ahnte ich nicht, daß mir die Bilder von dort über ein halbes Jahrhundert später noch einmal sichtbar werden sollten. Mitte der neunziger Jahre erhielt ich einen Anruf aus Dresden, man hätte einen Dokumentarfilm über das Lager Hellerberg und den Einzug der dort internierten Häftlinge ausfindig gemacht. Ein ehemaliger Laborant oder Photograph des Goehle-Werkes habe im Auftrag der Firmenleitung damals einen Film drehen müssen. Beim Einmarsch der Roten Armee nahm er den Film zu sich. 50 Jahre später übergab er ihn einem bekannten Dresdner Dokumentarfilmer. In mühsamer Kleinstarbeit hat dieser den bereits stark beschädigten Film so weit wiederhergestellt, daß er ihn abspielen konnte. Allerdings konnte er die Menschen in dem Film nicht identifizieren. Er lud mich nach Dresden ein, damit ich mir den Film ansehe und zur Vorbereitung der entstehenden Dokumentation beitrage. Ich war unheimlich aufgeregt, sah ich doch meine ehemaligen Freundinnen wieder, mit denen ich bei Zeiss-Ikon im ›Kindergarten‹ gearbeitet hatte und die alle in Auschwitz umgebracht wurden.«
9
Henny Brenner: Das Lied ist aus. Dresden 2005, S. 67f.
Sprecher*in 4:
Naja…, im Moment ist der Film eins der wenigen Dokumente und damit auch eine Art Denkmal. Aber auch hier ergeben sich Probleme: Das ursprüngliche Filmmaterial, die Dokumentation des Einzugs auf dem Hellerberg, hatte Erich Höhne als Angestellter von Zeiss Ikon aufgenommen, in wessen Auftrag und zu welchem Zweck ist noch unklar. Auch ob das Material damals öffentlich gezeigt wurde, weiß man nicht. Die ausgewählten Motive und der Schnitt, vor allem die eingeblendeten Zwischentitel, lassen aber eindeutig eine antisemitische Motivation erkennen. Die dargestellten Jüdinnen und Juden werden also teilweise aus einer nationalsozialistischen Perspektive porträtiert. Sie werden alle in Situationen gezeigt, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben, und die Aufnahmen sind nicht auf ihrer Seite. Beispielsweise die entwürdigenden Sequenzen von den Menschen in der Entseuchungsanstalt: Spätestens hier wird die Kamera zur Waffe.
Sprecher*in 3:
Naja .., aber wenn man diese Bilder heute zum Beispiel den Dresdnern zeigt, darf man doch hoffen, dass ihnen der Zusammenhang zwischen der Geschichte dieser Stadt und der Shoah deutlich wird. Darf man dieses Material nun zeigen oder nicht?
Sprecher*in 4:
Ich weiß auch nicht, aber ohne den Hinweis, dass die Zuschauenden gerade die Perspektive der Täter einnehmen, läuft man Gefahr, die abgebildeten Menschen erneut zu Objekten zu machen.
Sprecher*in 3:
Stimmt. Also ist es unerlässlich zu erwähnen: Wer hat die vorliegenden Bilder wann gemacht, in wessen Auftrag, zu welchem Zweck und unter welchen Umständen sie entstanden sind. Wie sind die Bilder aneinandergeschnitten, und wie ist das Verhältnis zwischen Kamera und Abgebildeten.
Sprecher*in 1:
»[…] Mich wundert bloß, sagte Hank gerade, wie genau sie das alles festgehalten haben, schließlich müssen diese ganzen Bilder doch von den Leuten gemacht worden sein, die die Lager betrieben haben, was für ein seltsamer Drang sie dazu getrieben haben mag, diese Scheußlichkeiten im Bild festzuhalten, beim besten Willen, mir ist das unerklärlich
Das ist ein menschliches Grundbedürfnis, sagte ich, das Bedürfnis, festzuhalten, was der Mensch zur vermeintlichen Vollendung der Geschichte beiträgt, ich bin sicher, sie waren überzeugt, sie würden mit alledem der Menschheit einen Dienst erweisen, indem sie die Welt von all dem Schmutz und Abschaum säuberten«
10
Raymond Federman: Die Nacht zum 21. Jahrhundert oder Aus dem Leben eines alten Mannes, Nördlingen 1988, S. 151f.
Sprecher*in 2:
Das Ende des Lagers: Die sogenannte »Fabrikaktion«, die reichsweit sämtliche Arbeitsverhältnisse von Jüdinnen und Juden in der Rüstungsindustrie beenden sollte, um sie anschließend zu deportieren, markierte in Dresden das Ende des Lagers auf dem Hellerberg. Am 27. Februar 1943 wurden alle dort Internierten vor Antritt ihres allmorgendlichen Arbeitsweges verhaftet und das Lager zum Polizeigefängnis erklärt. Bis zum 2. März wurden noch weitere Jüdinnen und Juden aus Erfurt, Halle, Leipzig, Plauen und Chemnitz dorthin verlegt. Am Abend desselben Tages begann die Räumung des Lagers, das heißt, alle Gefangenen wurden mit Lkws zum Güterbahnhof Dresden-Neustadt gefahren. In den frühen Morgenstunden des 3. März 1943 verließ der Transport den Bahnhof und brachte die Menschen in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Sprecher*in 5:
»E-Mails aus Israel«
2008
[01.03.2008]
»Hello Sir, hello Lady,
I just found by internet some information about Hellerberg camp, and some pictures shown there. On picture number 7, on right of the picture there is a man with a bag in his hand and a hat on his head. So, this is our grandfather Simon Silbermann. He and his wife Gertrud (nee Fleischmann) were sent with the last Jewish from Dresden to the Lager of Hellerberg, and then to Auschwitz for their death.
My father and his twin brother (Harry and Sigbart Silbermann) left and went to Israel in 1935. Unfortunately, my father passed away, but his brother, who is my uncle, recognized his father in this picture.
We would like to ask you, if it is possible please to receive a copy from this film. What I have found is much more than just a photo of my grandfather. This is one frame from a movie!
This means there is a movie showing our grandfather walking, in motion … this is just one picture from the movie. For us, that will be the last picture from him … last memory!
Simon and his wife Gertrud, and Simon‹s brother – Lejbus [Leo] – and his wife Rosa and their daughter Margot Felicia Silbermann, the entire Silbermann family were killed in Auschwitz 2-3 Mar.1943, immediately upon arrival at the selection platform.
We will thank you very much for any advice. Perhaps, you can help me to find a copy or contact to Ulrich Teschner or Ernst Hirsch.
With best Regards
Roni Pelled
Israel«
[06.04.2008]
»Dear Kathrin,
Hirsch sent me the film of »Lager Hellerberg«.
I want to thank you about everything you did for me.
Best and Pesach Semeach
Roni Pelled
Israel«
[29.07.2008]
»Dear Kathrin,
I think it is okay for me if you use my emails for your guide, I have no problem with that. Do you need more materials? If yes, don‹t hesitate to ask.
I must say that the film-strip was so touching for our hearts, and gave rise to shiver, sorrowful of thoughts … My teenaged daughter asks me to look at the film-strip AGAIN AND AGAIN AND AGAIN. … The eyes see and the heart hesitates to understand.
Best wishes, Roni«
- 1 Henny Brenner: Das Lied ist aus. Dresden 2005, S. 67
- 2 Henny Brenner: Das Lied ist aus. Dresden 2005, S. 67
- 3 Heinz Mayer: Am Beispiel Dresdens, in: Gerhard Schoenberner: Wir haben es gesehen. Hamburg 1962, S. 413 bis 417, hier S. 413
- 4 1942, 1. Dezember, Dienstag vormittag, in: Victor Klemperer: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945, Berlin 1999
- 5 Henry Meyer in: „Der glückliche zweite Geiger”. Feature von Michael Schulte. Vorläufiges Manuskript. S. 8. Sendung: 09.07.1997 Mitteldeutscher Rundfunk.
- 6 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend. Göttingen 1993, S. 78
- 7 Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1993, S. 138
- 8 Raymond Federman: Die Nacht zum 21. Jahrhundert oder Aus dem Leben eines alten Mannes, Nördlingen 1988, S. 144
- 9 Henny Brenner: Das Lied ist aus. Dresden 2005, S. 67f.
- 10 Raymond Federman: Die Nacht zum 21. Jahrhundert oder Aus dem Leben eines alten Mannes, Nördlingen 1988, S. 151f.