Redebeitrag von Katharina Wüstefeld (Autor*innenkollektiv audioscript) am 20. Januar 2022
anlässlich des Gedenkens an die ersten Deportationen von Jüdinnen_Juden aus Dresden vor 80 Jahren an der Ruine des Alten Leipziger Bahnhofs in Dresden
Ich will einsteigen mit dem, was ein Überlebender uns zu erzählen hat:
Manfred Ogrodek überlebte als einer von wenigen Dresdner Juden den Holocaust. Vor 80 Jahren wurde er von diesem Ort hier als elfjähriger Junge mit seinem Vater und seinem kleinen Bruder ins Ghetto Riga deportiert. Es war die erste Deportation sächsischer Jüdinnen und Juden mit der Absicht, sie zu vernichten.
Kurz nach dem Krieg setzt sich Manfred Ogrodek als 16-jähriger Junge in Dresden hin und schreibt auf, was er erlitten und überlebt hat. 27 Schreibmaschinenseiten füllt er, nach einem halben Jahr ist er fertig. Er ist jetzt 17 Jahre alt, es ist das Jahr 1948.
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Quelle: Heidrun Hannusch, in: Schuhe von Toten, Ausstellungskatalog
Was er vor seiner Deportation in Dresden erlebt hat, fasst er sehr knapp und sehr schlicht als Vorwort zusammen:
»Einer von vielen … bin ich, die das KZ von innen sahen. Mit diesen Tatsachen will ich keine Moralpredigt halten, dazu bin ich zu jung, sondern nur eine kleine Einsicht geben, wie es in einem Ghetto bezw. KZ aussah und wie ich es, damals als Kind, sah. […]
Unsere schlechte Zeit begann schon lange vor dem Krieg. Erst die Zerstörung der Geschäfte, der Synagogen, und die Ausweisung und Abschickung der polnischen Juden. Das Sterntragen und das »Angepöbeltwerden« auf der Straße. Ehen zerrüttet. Auf die »Gestapo« (Geheime Staatspolizei) bestellt. Ausgefragt über Dies und Jenes und geschlagen worden. Ausgehverbot und zuletzt ausgeraubt.
Das alles sind und waren Tatsachen, die in Deutschland passierten und die das Volk zuließ. Als damals elfjähriger Junge lernte ich das kennen, das Schlechtsein Mensch gegen Mensch.«
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Manfred Ogrodek, Kopie des Typoskripts von 1948, Archiv audioscript
Manfred Ogrodek hatte wie alle Jüdinnen und Juden in Dresden und in Deutschland erlebt, was es heißt, von der als die eigene empfundenen Bevölkerung abgesondert zu werden und zu sehen, wie sich diese tagtäglich in unvorstellbarer Weise verhielt. Die Entrechtungen und Entbehrungen, die Abgründe des zwischenmenschlichen Verhaltens, die Niedertracht, die Ausbeutung, die Gewalt und den Raub aufzuzählen, würde ohne Weiteres den ganzen Abend füllen und viele weitere.
Es gab keinen Ort in Dresden, der für Jüdinnen und Juden frei von Verfolgung war. Wer glaubt, Auschwitz habe in den Vernichtungs- und Konzentrationslagern stattgefunden, vergisst, dass die Vernichtung hier in Dresden und in anderen deutschen Städten verwirklicht wurde. Es waren Menschen in Dresden, die raubten, vertrieben, erniedrigten, entrechteten, schlugen und quälten. Aber auch zusahen, Solidarität verweigerten, lachten, denunzierten, schwiegen und die Vernichtung vorbereiteten: durch Zählen, durch Auflisten, Markieren, Bewachen, und: Transportieren.
Am 20. und 21. Januar 1942 holten Dresdner Polizisten und Gestapoangehörige 224 Menschen aus ihren Wohnungen und brachten sie zum Bahnhof Dresden-Neustadt. Diese Menschen hatten wenige Tage vorher Briefe erhalten, dass ihre Deportation bevorsteht. »Evakuierung« wurde das genannt. Ihnen wurden jeweils 50 Kilogramm Gepäck erlaubt. Außerdem mussten sie pro Person 50 Reichsmark für den Transport in den Tod bezahlen. Dieses Geld wurde vor Ort eingezogen und das zusammengepackte Eigentum durchsucht. Was ihnen gefiel oder wertvoll erschien, steckten sich die Gestapoangehörigen und Polizisten ein.
Das Sammeln der 224 Menschen, das Hin- und Hertreiben von einem Saal in den anderen, das Verladen, Schikanen und Schläge und die Vorbereitungen des Transports zogen sich bis zum Abend des 21. Januar hin. Dann setzte sich der Zug in Bewegung, und die Fahrt bis nach Riga in ausrangierten Personenwaggons dauerte 4 Tage und 4 Nächte. Die Menschen litten an Durst, Hitze und später Kälte und Erfrierungen.
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Quelle: Esra Jurmann: Vor allen Dingen war ich Kind
Zusammengelegt wurde der Transport mit 561 Jüdinnen und Juden aus dem Gestapobezirk Leipzig.
Deutsche und lettische SS hatten in Riga im Winter zuvor innerhalb von Tagen mehr als 28.000 Menschen erschossen, um – man kann es kaum aussprechen – Platz zu machen für weitere für die Zwangsarbeit und Vernichtung bestimmte Menschen. Unter den Erschossenen waren auch Jüdinnen und Juden aus Deutschland gewesen, was sich unter der jüdischen Bevölkerung in Deutschland bereits herumgesprochen hatte.
Dem Transport vom 21. Januar 1942 folgten noch weitere Deportationen aus Dresden und aus anderen deutschen Städten über diesen Bahnhof: So der Transport am 3. März 1943 nach Auschwitz, der Jüdinnen und Juden aus mehreren Städten betraf, die noch Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie hatten leisten müssen und in Dresden zuletzt im Lager am Hellerberg interniert waren und im nahegelegenen Goehlewerk für Zeiss-Ikon gearbeitet hatten. Aus Dresden waren in diesem Transport 293 Menschen. Nur 31 von ihnen erhielten in Auschwitz eine Häftlingsnummer, die anderen wurden sofort nach ihrer Ankunft vergast.
Dresden war Abfahrtsort und Durchgangsbahnhof und hat damit nicht nur die Ermordung von Jüdinnen und Juden aus Sachsen, sondern aus fast allen Städten des Deutschen Reichs ermöglicht.
Die Deportationstransporte mit älteren Jüdinnen und Juden ab Juni 1942 zum Beispiel, aus fast allen Städten des Deutschen Reichs nach Theresienstadt, fuhren fast ausnahmslos über Dresden.
Für uns als Teil der nachfolgenden Gesellschaft ist es relevant, nach den Ursachen und der Verantwortung für diese Verbrechen zu fragen.
Am 5. März 1933 haben im Wahlkreis Dresden-Bautzen 43,6 Prozent der Wählenden die NSDAP in den Reichstag gewählt. 43,6 Prozent. Fast genauso viele Stimmen erhielten zusammen SPD und KPD.
Dass mehr als die Hälfte der Menschen in Deutschland gegen die NSDAP gewählt haben, hat den Nationalsozialismus und hat den Holocaust nicht verhindern können. Die Gewalt des Naziregimes setzte unmittelbar nach den Reichstagswahlen mit Verhaftungswellen ein, mit der sofortigen Einrichtung von wilden Konzentrationslagern, unter anderem in den Gebäuden und Räumen der Arbeiter*innenbewegung und mit unvorstellbar sadistischer Gewalt gegen die Gegner*innen des Regimes.
Unser rückblickendes Wissen um den folgenden Aufbau des NS und um den Holocaust unterscheidet uns von den Wähler*innen der Zwanziger und Dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts. Das schmälert in keiner Weise ihre Verantwortung für alles, was geschehen ist und was verbrochen wurde. Aber es vergrößert die Verantwortung, die wir tragen, um eine Wiederholung zu verhindern.
Der italienische jüdische Chemiker Primo Levi, der sich 1943 dem bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen angeschlossen hatte und der Auschwitz überlebt hat, schrieb Zeit seines Lebens als Zeuge und als Überlebender über die Shoah. 1986 traf er die verblüffend simple und schreckliche Feststellung:
»Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen.«
Es liegt im Menschenmöglichen, solche Verbrechen zu erdenken, zu organisieren, durchzuführen, zu dulden, zu unterstützen, zu ignorieren und – nicht zu verhindern.
Zwanzig Jahre zuvor hatte Theodor W. Adorno, das ist uns allen bekannt, 1966, daran erinnert, dass der Holocaust uns einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen hat, nämlich unser Denken und Handeln so einzurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederholen kann und nichts Ähnliches geschehe.
Dass diese Forderung häufig mit Überlegungen zur Pädagogik und Bildung beantwortet wird, zeigt zum einen die Verzweiflung über die Frage, wo anzusetzen sei, um die Gesellschaft so einzurichten. Zum anderen zeigt es die Hoffnung, dass immer die jeweils nächste Generation eine bessere werden wird, wenn ihr Aufwachsen und Lernen an Emanzipation und Selbstbestimmung ausgerichtet werden.
Was wir über dieser Hoffnung aber nicht vergessen dürfen, ist, dass unser eigenes Denken und Handeln in jedem gesellschaftlichen Bereich und jede erdenkliche Konsequenz daraus unsere ganz individuelle Verantwortung ist. Und das ist auch der beste Ansatzpunkt.
Bisweilen werden Gedenkpädagogik und Bildung über den Nationalsozialismus missverstanden als eine Bildung, die vor allem Kinder und Jugendliche nötig haben.
Aber die Auseinandersetzung mit Auschwitz brauchen wir alle! Oder haben Erwachsene nichts mehr aus und über Auschwitz zu lernen?
Wenn wir die Ursachen verstehen und eine Wiederholung verhindern wollen, müssen wir vor allem aus den Millionen Entscheidungen lernen, die auch hier in Dresden tagtäglich getroffen wurden, und die die beinahe Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden überhaupt erst ermöglicht haben.
Und um aus diesen Entscheidungen und über sie lernen zu können, brauchen wir auch die Erinnerung. Dazu gehört Gedenken, öffentlich sichtbares Gedenken. Dazu gehören neben den Menschen auch Mittel - Gelder, Architektur, Strukturen, Bildung, Begegnung, Auseinandersetzung, Forschung und Dokumentation.
Das Wissen über den Holocaust ist noch keinesfalls erschöpft. Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr Wissen, desto mehr Erinnerung und Quellen drohen uns auch wieder verloren zu gehen.
Die wenigen aus den Lagern Geretteten, die überhaupt berichten konnten, lebten in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg mit Schuldgefühlen und Scham. Nicht wenige von ihnen nahmen sich auch noch im hohen Alter, Jahrzehnte nach dem Kriegsende, das Leben.
Bei den Täter*innen hingegen fanden sich Verdrängung, die Abwehr und Verkleinerung von Schuld und stattdessen Aufbau und Optimismus.
Dieser Ort hier, diese Ruine, diese Brache, befindet sich in einer Gesellschaft mit einem Nazi-Hintergrund, einer Tätergesellschaft. Und so sieht er auch aus. Der Großteil der Dresdner*innen hatte keine eigene Betroffenheit, keinen eigenen Schmerz über die Shoah zu ertragen.
Aus dem Zustand dieses Ortes spricht vieles: Vielleicht Verdrängung, vielleicht auch Ratlosigkeit. Wobei Ratlosigkeit auch angemessen und nicht das Schlechteste wäre.
Unangemessen wäre das bloße Beauftragen und Aufstellen einer Gedenktafel in einer alles andere als ratlosen, in einer souveränen Geste, die keine Fragen aufwirft, die nicht die Suche nach Antworten ermöglicht, sondern aus der Distanz der Nachgeborenen und in Abwesenheit der Angehörigen der Ermordeten, das Thema denkmalsarchitektonisch abhakt.
Es gilt, sensibel zu sein und den Angehörigen zuzuhören. Es gilt auch, sich zu fragen, wo Mittel in den richtigen Händen sind, und ob es noch konkrete Menschen zu unterstützen gilt, die bis heute an den Folgen des Nationalsozialismus und seiner Ideologie leiden oder verarmen.
Stellen WIR uns als nachgeborene Gesellschaft der Verantwortung, die unsere Angehörigen oder Vorgänger*innen häufig zeitlebens verdrängt haben, und stecken wir unsere Kräfte in eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust in Dresden.
Was wir brauchen, ist ein Lernort, ein Gedenkort, ein Begegnungsort, zur Dokumentation und zur andauernden kritischen Auseinandersetzung als Konsequenz, die wir aus der Verantwortung der Shoah zu ziehen haben.
Danke, dass Sie hier sind und der Ermordeten gedenken und damit die Erinnerung und auch die Mahnung wachhalten!