Literatur/Quellen:
»Wir suchen noch immer nach einer einzigen Firma, die keine Zwangsarbeiter beschäftigt hat.«*
Jüdische Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik Adolf Bauer
Zirkusstraße 7 (vor dem Marie-Curie-Gymnasium)
(13.74924, 51.04958)Dana Bondartschuk, Stefanie Busch, Erik Hildebrandt, Jadwiga Stummann, Hanns-Jörn Weber, Anke Woschech
Skript
»Wir suchen noch immer nach einer einzigen Firma, die keine Zwangsarbeiter beschäftigt hat.« 1 Ulrich Herbert, Historiker
Jüdische Zwangsarbeit in der Kartonagenfabrik Adolf Bauer
Sprecher*in 1: »Wir verstehen den Lärm nicht, der um diese Sache gemacht wird; wir haben ihnen Essen gegeben, wir haben ihnen Kleidung gegeben und eine Unterkunft und die Tatsache, dass sie überlebt haben ist ein Zeugnis davon, wie gut sie behandelt wurden« (deutsches Delegationsmitglied bei den Entschädigungsverhandlungen)
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Gruppe 3: Vom Täter zum Wohltäter – Deutschland beschließt seine Vergangenheit, diskus – Frankfurter StudentInnen Zeitschrift, 1/2000, https://copyriot.com/diskus/1_00/garip.htm#1 (zuletzt abgerufen 17.05.2021).
Sprecher*in 2: »Erst in dem Moment, in dem der deutsche Bundestag festgestellt hat, dass mit der Abweisung der in den USA anhängigen Klagen Rechtsfrieden hergestellt ist, wird die Stiftung berechtigt und verpflichtet, ihre Auszahlungen zu beginnen. Die Unternehmen wollen sicher sein, die Bundesrepublik will das auch, dass sie nicht weiter mit diesen Klagen überzogen werden. Da muss Schluss sein.«(Otto Graf Lambsdorf, Entschädigungsbeauftragter der Bundesregierung) 3 Matthias Thieme: Stiften gehen, Jungle World 29/2000, https://jungle.world/artikel/2000/29/stiften-gehen (zuletzt abgerufen am 14.06.2021)
Sprecher*in 1: »Die Beteiligung der Wirtschaft an der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« war von Anfang an an die Voraussetzung gekoppelt, dass Zahlungen an ehemalige Zwangsarbeiter nicht als Schuldeingeständnis gewertet werden. Außerdem sollte über die Stiftung erreicht werden, dass alle zurzeit noch anhängigen Forderungen mit den Geldern aus der Stiftung befriedigt werden. Das peinliche Kapitel sollte damit ein für alle Mal aus der Welt geschafft werden.« (Westdeutscher Rundfunk zur Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft)
Sprecher*in 1: »Es muss Rechtssicherheit darüber bestehen, daß Ansprüche nur noch gegenüber dem Fonds, nicht aber gegen Firmen erhoben werden dürfen. Das Bemühen - Klagen, insbesondere Sammelklagen in den USA, zu begegnen und Kampagnen gegen den Ruf unseres Landes und seiner Wirtschaft den Boden zu entziehen - steht im Vordergrund.« (Gerhard Schröder, 1999, deutscher Bundeskanzler) 4 Gerhard Schröder gegenüber den Medien in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung vom 16. Februar 1999), http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/007/1400765.pdf (zuletzt abgerufen am 14.06.2021)
Sprecher*in 3:
Nach Marx wird erst in der kapitalistischen Ökonomie jede Tätigkeit für das Kapital zum Mittel der Verwertung und für die Lohnarbeiter zum Mittel für ihren Lebensunterhalt. Erst jetzt lässt sich ganz allgemein von Arbeit sprechen. Ist aber die Arbeit Mittel zum Lebensunterhalt, so ist der Begriff der Zwangsarbeit ein falscher. Denn von den wenigen gezahlten Pfennigen, wenn überhaupt gezahlt wurde, lies sich nicht leben, davon lies sich kein Lebensunterhalt bestreiten.
Historisches: Ab April 1938 war durch die Maßnahmen zur endgültigen »Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben« eine große Anzahl jüdischer Menschen von Erwerbslosigkeit und Verarmung betroffen. In der Folge wurden alle erwerbslos gemeldeten Juden und Jüdinnen zur Zwangsarbeit eingesetzt. Im Laufe des Jahres 1940 wurde die Verpflichtung zur Zwangsarbeit auch auf Juden und Jüdinnen ausgedehnt, die weder vom Staat noch von jüdischen Einrichtungen unterstützt wurden. Von nun an erfolgte der Einsatz vorwiegend in der Industrie. Er umfasste 60 Wochenstunden, Strafmaßnahmen zur Disziplinierung, z.B. Einweisung in Arbeitserziehungslager. 5 Wolf Gruner: Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938-1943, Berlin 1997, S. 142
Über die jüdische Bevölkerung hinaus sind während des Nationalsozialismus 5 – 6 Millionen zivile Zwangsarbeitende aus Ost- und Westeuropa, 3 – 4 Millionen Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge von den Deutschen zur Arbeit gezwungen worden. Nahezu die Hälfte aller in der deutschen Landwirtschaft Beschäftigten waren ausländische Arbeiterinnen und Arbeiter. Dies gilt ebenfalls für Rüstungsbetriebe. Im Metall-, Chemie-, Bau- und Bergbausektor lag der Anteil bei etwa einem Drittel. 6 Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des dritten Reiches, Bonn 1999, S. 11
Die Zwangsarbeitenden wurden reichsweit in Zehntausenden Lagern untergebracht – in zugigen und verwanzten Baracken, Fabrikhallen und Bootsschuppen. Sie arbeiteten für die Großindustrie ebenso wie für Gemeinden, Reichsbahn, Kirchen, Bauern oder private Haushalte. Die Industrie profitierte von der dadurch möglichen starken Ausweitung und Modernisierung der Produktion, mit der die Grundlage für das so genannte Wirtschaftswunder nach dem Krieg gelegt wurde. 7 Cord Pagenstecher: Von der Gegenwart des Lagers – ein historischer Überblick. In: Katalog zur Ausstellung »Zur Abwesenheit des Lagers. Reflexionen zeitgenössischer Kunst zur Aktualität des Erinnerns« (Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst), 2006, S. 23.
Ernährung, Kleidung, ärztliche Versorgung und Unterbringung waren völlig unzureichend. Die Mehrzahl der Zwangsarbeitenden hatte minder qualifizierte, schwere und gesundheitsschädigende Arbeiten zu verrichten. Sie waren Bedrohungen und Misshandlungen, viele Frauen Vergewaltigungen, Zwangsabtreibungen oder Zwangssterilisierungen ausgesetzt. 8 ebenda
Die Situation der jüdischen Menschen unterschied sich hinsichtlich der Zwangsarbeit von fast allen anderen Gruppen. Die Arbeit war als Strafe, »Erziehung« oder »Rache« zu verstehen und sollte die angebliche Nutzlosigkeit der Juden und Jüdinnen unter Beweis stellen. Sie wurden gedemütigt und zu harter körperlicher Arbeit genötigt, die keinerlei praktischen Sinn hatte, während man sie zusätzlichen Schlägen oder Quälereien aussetzte. 9 Ulrich Herbert: Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der »Weltanschauung« im Nationalsozialismus. In: Dan Diner: Ist der NS Geschichte? Zur Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt/Main 1987, S. 198-236. siehe auch: Vortrag von Ulrich Herbert - »Arbeit und Vernichtung«: Über Konvergenzen und Widersprüche nationalsozialistischer Politik, gehalten auf der Holocaust Studies Tagung - Arbeit und Vernichtung: Aufzeichnung auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=njH3nHkWOwI&list=PL3A11F36A921841FB&index=7, zuletzt abgerufen am 16.07.2021; Veranstalter: Arbeiterkammer Wien und Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien 27.-29. JUNI 2007 vgl. auch Videoarchiv des Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien, https://www.vwi.ac.at/index.php/veranstaltungen/icalrepeat.detail/2007/06/27/48/34|35|43|46|44|122|45|125|47|48|49|50|58|59|65|66|121/arbeit-und-vernichtung-vwi-tagung-2007
Sprecher*in 3: Hierin wurde eine wesentliche Projektion des Antisemitismus ausagiert, nämlich die Vorstellung, Juden seien arbeitsscheu und lebten von der Arbeit anderer – eine Vorstellung, die sich auf die lange Tradition des antijudaistischen Bildes vom angeblich parasitären, wuchernden Juden stützt. Insbesondere eine Abneigung gegen körperliche Arbeit wurde der jüdischen Bevölkerung unterstellt, und deshalb wurden ihnen oft Werkzeuge und dergleichen verweigert, auch wenn dies den Arbeitsprozess verlangsamte.
Historisches: Mit der deutschen Niederlage vor Moskau im Winter 1941/42 gewann die ökonomische Ausbeutung der Juden und Jüdinnen an Bedeutung. Der nun folgende Arbeitseinsatz in den Konzentrationslagern war allerdings von einem geringen Interesse an der Erhaltung der Arbeitskraft der oder des Einzelnen gekennzeichnet. Denn die Häftlinge waren leicht zu ersetzen. Arbeit wurde so zum Mittel der Vernichtung: Hierbei war die rasche Erschöpfung der Juden und Jüdinnen durch alle Kräfte übersteigende Arbeit das wesentliche Ziel. 10 ebenda
Schon vor Aufnahme der Arbeit war klar, dass diese unabhängig von Leistungskraft und Produktivität nur vorübergehend sein und mit einem baldigen Tod enden würde. Der mögliche Nutzen jüdischer Arbeit blieb unberücksichtigt. Häufig wurden alle Juden und Jüdinnen von einem Tag auf den anderen in einem Gebiet oder einer Produktionsanlage getötet und damit wichtige, unersetzliche Arbeitsprozesse plötzlich beendet. 11 ebenda
Dass heißt, größer als das kriegswirtschaftliche Interesse an der Ausbeutung blieb immer die politisch-ideologische Zielsetzung der Vernichtung. Der Historiker Dan Diner spricht daher von einer Handlungsfalle »in die die jüdischen Opfer angesichts ihrer sinnlosen Vernichtung getrieben worden waren.« In der Annahme durch Arbeit ihr Schicksal in Richtung Überleben beeinflussen zu können, wurden sie zu Agenten ihrer eigenen Vernichtung. Sie arbeiteten, weil sie glaubten die Arbeit würde sie am Leben erhalten. Das Gegenteil war der Fall, denn Arbeit war ein Mittel ihrer Vernichtung. Daher scheiterte ihr auf Überleben ausgerichtetes rationales und konventionelles Verhalten an der gegen-rationalen Absicht der Nazis - der Vernichtung. 12 Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Vorwort des Herausgebers, Frankfurt am Main 1988, S. 8
Indem Menschen der bloßen Vernichtung wegen vernichtet werden konnten, wurden die Grundfesten unserer Zivilisation tiefgreifend erschüttert – ja gleichsam dementiert. Dieses erschütterte gesellschaftliche konstitutive Grundvertrauen hat Dan Diner als Zivilisationsbruch bezeichnet. 13 ebenda
»Von einer Firma, hieß es, der Chef sei anständig, das war die Kartonagenfabrik Bauer. Der Chef, Adolf Bauer, hatte zwanzig jüdische Arbeiter angefordert, und auch ich kam dorthin. Die Fabrik lag in einer engen Gasse. Unsere Aufgabe war es, Salbendosen für Apotheken herzustellen. Ich arbeitete an Walzen, an denen Pappen zusammengeklebt wurden. Auf der Arbeitskleidung trugen wir den gelben Judenstern und außerdem eine gelbe Binde, damit wir auch von hinten zu erkennen waren. Auch hier gab es wieder Akkordarbeit, Tag- und Nachtschicht…
… Herrn Bauer sahen wir einmal zwei Wochen lang überhaupt nicht. Plötzlich kam er mit zwei Männern in langen Ledermänteln und Schlapphüten herein…. Sie suchten Leute aus und nahmen sie mit. Darunter Frau Agunthe, deren Mann einmal Rundfunkleiter des Dresdner Rundfunks gewesen war und seine Stellung wegen der jüdischen Frau verlor. Da hieß es: »Wo ist die Jüdin Agunthe?« Die Frau wurde leichenblaß, sie wußte genau, was los war. »Mitkommen!« lautete der Befehl. Sie wollte noch auf die Toilette gehen, wir nehmen an, um sich zu vergiften. Daran haben sie sie aber gehindert … Es war klar, daß sie nicht wieder zurückkommen sollte. Gehört haben wir nie wieder von ihr. Diese Selektionen gingen weiter, tagelang, wochenlang. Immer wieder wurde aussortiert. Immer kam einer weg. … Wir lebten in der ständigen Angst, die nächsten zu sein, die sie abholen kamen. Die Angst war unbeschreiblich, sie hat uns fast verrückt gemacht.« Henny Brenner: Das Lied ist aus.
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Henny Brenner: Das Lied ist aus – ein jüdisches Schicksal in Dresden, 2005, S. 73-74
»1943 musste ich in der Judenabteilung bei der Kartonagenfabrik A. Bauer, Dresden-Altstadt, Neue Gasse arbeiten. Ich erlernte in dieser ganzen Zeit die russische Sprache. Ich nahm Fühlung mit russischen Kriegsgefangenen in dem Lager Dresden-Altstadt, Zeughausstr.1, gab ihnen die letzten Kriegsgeschehnisse bekannt, beförderte ihre Briefe, gab Essen und verhalf Einzelnen zur Flucht. Durch Verrat kam dies ans Tageslicht, und die ganze Familie wurde verhaftet. Ich war vom 1.6.44 bis zur Befreiung der Roten Armee in dem KZ Auschwitz-Birkenau, […] mein Vater ebenfalls […] er ist bis jetzt noch nicht zurückgekehrt.« Ilse Frischmann, aus den Akten der Verfolgten des Naziregimes 15 Ilse Sabartinski (auch Frischmann): aus VdN-Akten
Historisches: Die Überlebenden der nationalsozialistischen Lager erhielten als so genannte Entschädigung einmalige Zahlungen, die je nach Herkunftsland und Kategorie des Lagers differierten. Wenn der oder die Betroffene nach 1999 verstorben ist, konnten die Angehörigen die Summe beanspruchen. Die Auszahlungen wurden Ende 2006 angeschlossen.
KZ- und Ghetto-Häftlinge erhielten 7.699 Euro
Arbeitserziehungslager-Häftlinge zwischen 3.068 und 7.669 Euro
osteuropäische Zwangsarbeitende in der Industrie 2.556 Euro,
osteuropäische Zwangsarbeitende in der Landwirtschaft zwischen 767 und 2.235 Euro
Kinderhäftlinge zwischen 536 und 2.234 Euro. 16 Cord Pagenstecher: Von der Gegenwart des Lagers – ein historischer Überblick. In: Katalog zur Ausstellung »Zur Abwesenheit des Lagers. Reflexionen zeitgenössischer Kunst zur Aktualität des Erinnerns« (Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst), 2006, S. 25)
Ein Drittel der Anträge wurde abgelehnt. In diesem Fall konnte aufgrund der spezifischen Rechtsform der Stiftung nicht wie im bürgerlichen Recht üblich ein Verwaltungsgericht angerufen, sondern lediglich an eine stiftungsinterne Beschwerdestelle appelliert werden.
Sprecher*in 1: »Rechtsansprüche gegen deutsche Unternehmen im Hinblick auf Zwangsarbeit oder Schäden wegen der Verfolgung während der NS-Zeit bestehen nicht. … Die deutschen Unternehmen sehen aber eine moralische Verantwortung insbesondere dort, wo Zwangsarbeit unter besonders erschwerten Bedingungen geleistet werden musste.« (Präambel der Stiftungsinitiative »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«) 17 Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Präambel, zuletzt abgerufen am 19.03.2024: https://www.stiftung-evz.de/wer-wir-sind/geschichte/gesetz/
Sprecher*in 2:»Bei den Zahlungen handelt es sich in erster Linie um freiwillige Zahlungen ohne rechtliche Verpflichtung. Mit ihnen wird … nicht zuletzt das Ziel verfolgt, eine Grundlage zu schaffen, um den Sammelklagen in den USA begegnen zu können und damit verbunden den drohenden Imageverlust auf dem dortigen Markt und weltweit abzuwenden und wirtschaftliche Sanktionen in Form von Lizenzentzug und Boykottaufrufen zu vermeiden. Die Beiträge dienen insoweit der Sicherung und Aufrechterhaltung des unternehmerischen Ansehens, d.h. der Wettbewerbsposition der Unternehmen.« (Hans Eichel, damaliger Finanzminister)
Sprecher*in 1: »Mit der Stiftungsinitiative verfolgt die deutsche Wirtschaft auch das Ziel, den derzeit anhängigen Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter in adäquater Form zu begegnen. Sie soll Rechtssicherheit und Rechtsfrieden schaffen und dazu beitragen, den Ruf und das Ansehen unseres Landes und der deutschen Wirtschaft zu schützen.«(Deutsche Bundesregierung, 1999)
Sprecher*in 2: »Diese Solidaritätsaktion der deutschen Wirtschaft ist in dieser Form und mit der freiwilligen Sammlung von über fünf Milliarden Mark in der Welt einmalig.« (Manfred Gentz, Stiftungskuratorium und Finanzvorstand der DaimlerChrysler AG)
Sprecher*in 1: »Die Unternehmen sind im Zusammenhang mit den in den USA anhängigen Sammelklagen auch Androhungen von Boykottaufrufen seitens verschiedener Organisationen ausgesetzt. Dem soll durch ein abschließendes materielles Zeichen einer fairen, kooperativen und vor allem schnellen Hilfe die Grundlage entzogen werden. Die Initiative setzt die Erlangung einer für die Unternehmen befriedigenden Form der Rechtssicherheit voraus.« (Deutsche Bundesregierung, 1999)
Sprecher*in 2: Am Ende dieses Jahrhunderts sind deutsche Unternehmen nochmals bereit, als Geste der Versöhnung Mittel in eine humanitäre Stiftung »Erinnerung Verantwortung und Zukunft« einzubringen, um heute noch lebenden ehemaligen Zwangsarbeitern, die damals Arbeit unter besonders belastenden Bedingungen haben leisten müssen, zu helfen. Unabdingbare Voraussetzung für die Bereitstellung der Mittel ist, dass für die Unternehmen umfassende und dauerhafte Rechtssicherheit geschaffen wird. (Präambel der Stiftungsinitiative »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«) 18 ebenda
Historisches: Keine Entschädigung erhielten sowjetische Kriegsgefangene, italienische Militärinternierte, west- und südeuropäische Zivilarbeitende sowie Zwangsarbeitende, die in ihrem eigenen Herkunftsland von den Deutschen zur Arbeit gezwungen wurden. Ebenfalls leer ausgingen die bereits vor Februar 1999 Verstorbenen und diejenigen, die ihre Zwangsarbeit nicht nachweisen oder wenigstens glaubhaft machen konnten. Dies erwies sich oftmals aufgrund gezielter Dokumentenvernichtung durch die deutsche Seite als unmöglich. 19 Cord Pagenstecher: Von der Gegenwart des Lagers – ein historischer Überblick. In: Katalog zur Ausstellung »Zur Abwesenheit des Lagers. Reflexionen zeitgenössischer Kunst zur Aktualität des Erinnerns« (Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst), 2006, S. 25
Bis zum Start der Verhandlungen über Entschädigungszahlungen waren bereits 90 % der ehemaligen Zwangsarbeitenden verstorben. Nahezu zehn Prozent der noch lebenden Betroffenen starben während der peniblen Prüfung ihres Antrags und der geforderten Beweisstücke. Auf der Seite der Opfer lag die Beweislast, sie mussten in Kleinarbeit die erforderlichen Unterlagen ausfindig machen, sie wurden zu Bittstellern degradiert anstatt als Ankläger bzw. Anklägerinnen ernst genommen zu werden. Der Stiftungsfonds »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft« intendiert den Schlussstrich unter die materiellen Konsequenzen aus den NS-Untaten. Mit größter Selbstverständlichkeit – und mit Erfolg – beharrten Unternehmen und Bundesregierung darauf, die Herausgabe der Profite aus Zwangsarbeit und Arisierung durch eine humanitäre Geste an die Opfer zu ersetzen.
Die deutsche Verweigerung einer Entschädigung, die diesen Namen verdient hätte, bezeichnete Rudy Kennedy – ein ehemaliger Zwangsarbeiter der I.G. Farben, als »the final insult« - die letzte Beleidigung. 20 gruppe offene rechnungen (Hg.): The final insult – Das Diktat gegen die Überlebenden. Deutsche Erinnerungsabwehr und Nichtentschädigung der NS-Sklavenarbeit, 2003, S. 7.
»In der Abwehr der geringen Forderungen, erhoben von jenem Häuflein Menschen, das die Vernichtung durch Arbeit bis heute überlebt hat, entrang sich einer der deutschen Herrenmenschenfressen das ethische Schlusswort, Auschwitz sei ein so unerhörtes Verbrechen gewesen, daß es mit Geld nicht wiedergutgemacht werden könne. Wer also Bares verlange, sollte das heißen, handle wider die Moral.« 21 Hermann L. Gremliza: Wenn die Deutschen Auschwitz nicht erfunden hätten, hätten sie Auschwitz erfinden müssen. In: Wolfgang Schneider: Wir kneten ein KZ. Aufsätze über Deutschlands Standortvorteil bei der Bewältigung der Vergangenheit, Hamburg 2000, S. 7
- 1 Ulrich Herbert, Historiker
- 2 Gruppe 3: Vom Täter zum Wohltäter – Deutschland beschließt seine Vergangenheit, diskus – Frankfurter StudentInnen Zeitschrift, 1/2000, https://copyriot.com/diskus/1_00/garip.htm#1 (zuletzt abgerufen 17.05.2021).
- 3 Matthias Thieme: Stiften gehen, Jungle World 29/2000, https://jungle.world/artikel/2000/29/stiften-gehen (zuletzt abgerufen am 14.06.2021)
- 4 Gerhard Schröder gegenüber den Medien in: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung vom 16. Februar 1999), http://dipbt.bundestag.de/doc/btd/14/007/1400765.pdf (zuletzt abgerufen am 14.06.2021)
- 5 Wolf Gruner: Der geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938-1943, Berlin 1997, S. 142
- 6 Ulrich Herbert: Fremdarbeiter. Politik und Praxis des »Ausländer-Einsatzes« in der Kriegswirtschaft des dritten Reiches, Bonn 1999, S. 11
- 7 Cord Pagenstecher: Von der Gegenwart des Lagers – ein historischer Überblick. In: Katalog zur Ausstellung „Zur Abwesenheit des Lagers. Reflexionen zeitgenössischer Kunst zur Aktualität des Erinnerns“ (Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst), 2006, S. 23.
- 8 ebenda
- 9 Ulrich Herbert: Arbeit und Vernichtung. Ökonomisches Interesse und Primat der „Weltanschauung“ im Nationalsozialismus. In: Dan Diner: Ist der NS Geschichte? Zur Historisierung und Historikerstreit, Frankfurt/Main 1987, S. 198-236. siehe auch: Vortrag von Ulrich Herbert - „Arbeit und Vernichtung“: Über Konvergenzen und Widersprüche nationalsozialistischer Politik, gehalten auf der Holocaust Studies Tagung - Arbeit und Vernichtung: Aufzeichnung auf youtube: https://www.youtube.com/watch?v=njH3nHkWOwI&list=PL3A11F36A921841FB&index=7 , zuletzt abgerufen am 16.07.2021; Veranstalter: Arbeiterkammer Wien und Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien 27.-29. JUNI 2007 vgl. auch Videoarchiv des Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien, https://www.vwi.ac.at/index.php/veranstaltungen/icalrepeat.detail/2007/06/27/48/34|35|43|46|44|122|45|125|47|48|49|50|58|59|65|66|121/arbeit-und-vernichtung-vwi-tagung-2007
- 10 ebenda
- 11 ebenda
- 12 Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch: Denken nach Auschwitz, Vorwort des Herausgebers, Frankfurt am Main 1988, S. 8
- 13 ebenda
- 14 Henny Brenner: Das Lied ist aus – ein jüdisches Schicksal in Dresden, 2005, S. 73-74
- 15 Ilse Sabartinski (auch Frischmann): aus VdN-Akten
- 16 Cord Pagenstecher: Von der Gegenwart des Lagers – ein historischer Überblick. In: Katalog zur Ausstellung „Zur Abwesenheit des Lagers. Reflexionen zeitgenössischer Kunst zur Aktualität des Erinnerns“ (Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst), 2006, S. 25)
- 17 Stiftungsinitiative der deutschen Wirtschaft, Präambel, zuletzt abgerufen am 19.03.2024: https://www.stiftung-evz.de/wer-wir-sind/geschichte/gesetz/
- 18 ebenda
- 19 Cord Pagenstecher: Von der Gegenwart des Lagers – ein historischer Überblick. In: Katalog zur Ausstellung „Zur Abwesenheit des Lagers. Reflexionen zeitgenössischer Kunst zur Aktualität des Erinnerns“ (Kunsthaus Dresden, Städtische Galerie für Gegenwartskunst), 2006, S. 25
- 20 gruppe offene rechnungen (Hg.): The final insult – Das Diktat gegen die Überlebenden. Deutsche Erinnerungsabwehr und Nichtentschädigung der NS-Sklavenarbeit, 2003, S. 7.
- 21 Hermann L. Gremliza: Wenn die Deutschen Auschwitz nicht erfunden hätten, hätten sie Auschwitz erfinden müssen. In: Wolfgang Schneider: Wir kneten ein KZ. Aufsätze über Deutschlands Standortvorteil bei der Bewältigung der Vergangenheit, Hamburg 2000, S. 7