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Literatur/Quellen:

Theodor W. Adorno: Ob nach Auschwitz sich noch leben lasse. Ein philosophisches Lesebuch, Frankfurt am Main 1997.
Bildungs- und Begegnungsstätte für Jüdische Geschichte und Kultur Sachsen HATiKVA e.V. (Hg.): Spurensuche - Juden in Dresden: ein Begleiter durch die Stadt, Hamburg 1995.
Henny Brenner: Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden, Dresden 2005.
Horst Busse, Udo Krause: Lebenslänglich für den Gestapokommissar: d. Prozeß gegen d. Leiter d. Judenreferats bei d. Dresdner Gestapo, SS-Obersturmführer Henry Schmidt, vor d. Bezirksgericht Dresden vom 15. bis 28. September 1987.
Dresdner Hefte 77: Die Ausstellung »Entartete Kunst« und der Beginn der NS-Kulturbarbarei in Dresden, Dresden 2004.
Annette Dubers: Johannstadt. Aus der Geschichte eines Dresdener Stadtteils.
Marcus Gryglewski: Zur Geschichte der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933 – 1945. In Norbert Haase, Stefi Jersch-Wenzel, Hermann Simon (Hg.): Die Erinnerung hat ein Gesicht. Fotografien und Dokumente der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933-1945, Leipzig 1998.
Victor Klemperer: Zeugnis ablegen. Die Tagebücher des Victor Klemperer. 1933-1945, Walter Nowojski (Hg.), Berlin 1999.
Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992.
Henri Lefèbvre: Die Revolution der Städte, Dresden 2003.
Track 4

»… ein leidlich malerisches Bild.«*
Stigmatisierung und Ausgrenzung aus dem öffentlichen Raum

12:04 min / 16.6 MB
Standort:

Brühlsche Terrasse

(13.74202, 51.05336)
Stimmen:

Dana Bondartschuk, Monika Hammerla, Renate Heidelmann, Angela Stuhrberg, Jadwiga Stummann, Iveta Szanyiova,

Skript

Im Anschluss an eine Führung im Dresdner Stadtmuseum trifft eine Touristin im »Cafe Vis-A-Vis« auf der Brühlschen Terrasse auf eine ältere Frau. Es ist ein sonniger Mai-Nachmittag, die ältere der beiden sitzt an einem Tisch im Freien mit Blick auf das gegenüberliegende Elbufer.

Touristin: Entschuldigen Sie bitte, ist hier noch frei?

Dresdnerin: Ja, bitte schön…

Touristin: Sagen Sie mal, ich habe ein Frage … Sind Sie Dresdnerin?

Dresdnerin: Ja, ich habe Zeit meines Lebens in der Dresdner Johannstadt gelebt.

Touristin: Also ich bin erschüttert! Da stehen doch diese beiden jungen Frauen 1941 auf den Stufen zur Brühlschen Terrasse und im Hintergrund ist das Schild »Juden Zutritt verboten« zu sehen. Also ich kann das nur geschmacklos finden. Konnte der Fotograf nicht darauf achten dass dieses Schild nicht im Bild ist? … Kennen Sie diese Fotografie? Ich habe sie eben im Stadtmuseum gesehen: Zwei Frauen in Schwarz-Weiß, lachend, auf unserem Balkon Europas, mit einem Hund an ihrer Seite. Wissen Sie, es stammt aus dem Jahr 1941, im Hintergrund der beiden Frauen sieht man das Schild »Juden Zutritt verboten«. Erstaunlich, dass die Frauen sich nicht anders, ich meine ohne Schild auf der Treppe platziert haben. Offenbar gehört das Schild so selbstverständlich in das Arrangement wie der Hund an ihrer Seite. Das ist Barbarei! Dass den jüdischen Mitbürgern das Flanieren hier auf der Brühlschen Terrasse verwehrt wurde.

Dresdnerin: Ahm…Hm

Touristin: Unvorstellbar, 1933 hatten die Kulturbarbaren schon den Direktor und Dirigenten der Semperoper Fritz Busch, ein toller und fähiger Mann, wegen juden- und ausländerfreundlicher Personalpolitik und seiner oppositionellen Haltung wegen entlassen… 1 Herrmann, Matthias: »Ein großes Charaktersterben hat eingesetzt«. Zur Entlassung Fritz Buschs durch die Nationalsozialisten im März 1933, Dresdner Hefte, 22. Jahrgang, Heft 77, 1/04, S. XX Das muss man sich mal vorstellen!

Historisches: Zu seinem privaten Verkehr mit Juden bekannte Busch, es sei für ihn selbstverständlich, sich seine »Freunde auf Grund ihrer menschlichen und geistigen Fähigkeiten auszusuchen«, er »halte es insbesondere im Falle der Not für die Pflicht jedes anständigen Menschen, seine Freunde nicht Preis zu geben«. Und zur »juden- und ausländerfreundlichen Personalpolitik« an der Staatsoper erklärte Busch, dass er »als Künstler auf dem Standpunkt« stehe, dass allein die Leistung entscheide, nicht die rassische Herkunft. 2 Ebenda, S. 44.

Touristin: Auch haben die Nationalsozialisten schon 1933, noch vor München die Ausstellung »Entartete Kunst« in Dresden gezeigt. Die Nationalsozialisten haben auch wirklich vor gar nichts halt gemacht. Sie diffamierten die Kunst des Impressionismus, des Expressionismus und des Dadaismus. Die Ausstellung schürte die Aversionen gegen die Moderne. 3 Ebenda, S. XX.

Dresdnerin: Ja glauben Sie, dass das Verbotsschild nicht auf das Foto gehört hätte? Die Juden mussten im Rinnstein laufen, auf der Brühlschen Terrasse hatten sie dann erst recht nichts zu suchen.

»Manche Leute haben uns angepöbelt oder angespuckt. Oft liefen Kinder hinterher und riefen: »Judenschwein, Judenschwein, runter vom Gehsteig!« 4 Henny Brenner: Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden, 2017, S. 62.

Dresdnerin: Wenn Sie sich hier auskennen, denen war der Zutritt auch im Großen Garten, am Königsufer und der Bürgerwiese untersagt. Das war so ab dem Sommer 40. 5 Haase, Norbert, Jersch-Wenzel, Stefi, Simon, Hermann: Die Erinnerung hat ein Gesicht? Fotografien und Dokumente zur Nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933-1945, Leipzig 1998, S. 164. Ich stamme aus der Dresdner Johannstadt. Sie machen sich ja kein Bild wie schön es da war. Die weiten Plätze, die gepflegten Garten-anlagen, die Villen, die Bürgerhäuser, die Parkbänke und die Brunnenanlagen. »Seht her so schön ist die Johannstadt« hieß es auf Postkarten, die wir in alle Welt verschickt haben 6 Dubbers, Annette: Johannstadt: aus der Geschichte eines Dresdner Stadtteils, Umweltzentrum Dresden, 1999. . Selbst unser Gauleiter der Herr Mutschmann, unser König Mu, hat sich in der Johannstadt Quartier genommen. 7 Ebenda. Aber …… am 13. Februar 45 … alles durch die Bomber ausradiert!

Kellnerin: Was kann ich Ihnen bringen?

Dresdnerin: Ein Kännchen Bohnenkaffee!

Touristin: Bringen sie mir doch bitte einen Latte macchiato und ein stilles Wasser! Sagen Sie, wussten Sie dass den Juden der Zutritt zur Brühlschen Terrasse verwehrt wurde?

Kellnerin: Entschuldigen Sie bitte, da drüben wird nach mir verlangt. Aber ich bin sofort wieder da…

Dresdnerin: Es haben ja eh nicht alle drauf gehört. Im Großen Garten sind zu der Zeit zwei alte Frauen mit Stern gesehen worden. Die saßen sogar auf einer Bank, als wenns das Verbot nicht gegeben hätte. Da wurde die israelitische Gemeinde aufgefordert die Frauen zu melden. Gefunden hat man sie nicht. Dafür gab‹s die Todesstrafe.

Historisches: »An alle Juden, die zum Tragen des Kennzeichens verpflichtet sind. Nach Mitteilung der örtlich zuständigen Aufsichtsbehörde sind im Laufe der letzten 3 Wochen an einem Tage 2 ältere jüdische Frauen mit Stern auf einer Bank in der Herkules-Allee im Großen Garten sitzend gesehen worden. Wir erwarten im Interesse der Allgemeinheit und zur Vermeidung weiterer Maßnahmen dass diese beiden Frauen sich unbedingt sofort bei der Israelitischen Religionsgemeinde, Zeughausstr. 3 melden. Wir fordern alle Juden auf, uns sachdienliche Mitteilungen, die zur Ermittlung der Betreffenden führen können, zu machen.
Der Vorstand der Israelitischen Religionsgemeinde zu Dresden e.V. gez. Kurt Israel Hirschel« 8 XXX (Kathrin)

»Man war nicht sicher, wie die Bevölkerung auf die neue Verordnung reagieren würde, und so verließen wir am ersten Tag zusammen das Haus. Überall trafen wir Leute, die auch den Stern trugen. Ein neues Straßenbild. Eine Jüdin sagte schnell im Vorbeigehen zu meiner Mutter: »Er passt zu Ihrer Bluse.« Ich fand das mutig und witzig, meine Mutter war weniger beeindruckt.« 9 Ruth Klüger: weiter leben Eine Jugend, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & co. KG, München, November 1994, 13. Auflage März 2005, S. 50.

Touristin: Ein unerträglicher Gedanke, dieser gelbe Stofflappen. Das hätte mich wahnsinnig gemacht, diese Kennzeichnung an meine Kleidungsstücke zu heften. Diese soziale Degradierung, diese lähmende und demoralisierende Stigmatisierung. Jederzeit und überall festgenommen werden zu können. Bei jedem Schritt von allen Seiten angestarrt, observiert und kontrolliert zu werden. Ich kann mir das richtig vorstellen!

»Der gelbe Fleck, der den Juden in Deutschland angeheftet worden ist, um sie unterscheidbar zu machen, diente in Wahrheit ihrer Gleichmachung; was jedem Einzelnen als sein Spezifisches eignen mochte, sollte vor dem, was er mit vielen teilte, verschwinden: der einzelne Jude war nicht länger der wirklich lebende und leidende Mensch, er wurde, als Angehöriger dieses Volkes, zum bloßen Exempel eines anderen, einer Abstraktion, in der das konkret Verschiedene im ununterscheidbar Identischen aufging.« 10 Rolf Tiedemann (Hg.): Theodor W. Adorno: »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse.« Ein philosophisches Lesebuch, 1997, S. 17.

Gestern, als Eva den Judenstern annähte, tobsüchtiger Verzweiflungsanfall bei mir. 11 Victor Klemperer: Tagebücher 1940-1941, Aufbau Taschenbuchverlag Berlin, 3. Auflage 1999, S. 167.

Ich kann nicht sagen, daß ich ihn ungern getragen habe, den Judenstern. Unter den Umständen schien er angebracht. Wenn schon, denn schon. 12 Ruth Klüger: weiter leben Eine Jugend, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & co. KG, München, November 1994, 13. Auflage März 2005, S. 50.

Der Judenstern schwarz auf gelbem Stoff, (…) auf der linken Brust zu tragen Handteller groß, gegen 10 Pfennig gestern ausgefolgt, von morgen, 19.9. ab zu tragen. Der Omnibus darf nicht mehr, die Tram nur auf dem Vorderperron benutzt werden. Eva wird, wenigstens vorläufig, alles Besorgen übernehmen, ich will nur im Schutz der Dunkelheit ein bisschen Luft schöpfen. 13 Victor Klemperer Tagebücher 1940-1941, Aufbau Taschenbuchverlag Berlin, 3. Auflage 1999, S. 165.

Touristin: Hm. Mit den Worten des französischen Intellektuellen Lefebvre gesagt: Für die Straße. Sie ist der Ort der Begegnung ohne den es kein Zusammentreffen an anderen dafür bestimmten Orten gibt. Hier ist Bewegung; die Straße ist Schmelztiegel, der das Stadtleben erst schafft und ohne den nichts wäre als Trennung, gewollte und erstarrte Isolierung… 14 Lefèbvre, Henry: Die Revolution der Städte, Dresden 2003, S. 31.

Kellnerin: Der Kaffee!

Touristin: … Gegen die Straße! Ort der Begegnung? Vielleicht.

Dresdnerin: Jaja … ausradiert haben sie unsere schöne Stadt.

Kellnerin: Ja, aber wo sich begegnen. Die Juden und Jüdinnen war der Zutritt zu den Badeanstalten untersagt, der Kinobesuch und das Eisessen standen unter Strafe. 15 Haase, Norbert, Jersch-Wenzel, Stefi, Simon, Hermann: Die Erinnerung hat ein Gesicht? Fotografien und Dokumente zur Nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933-1945, Leipzig 1998, S. 164. Man hätte ihnen ausschließlich auf dem Weg zur Zwangsarbeit und bei Besorgungen begegnen können. Mit dem Judenstern lässt es sich nicht Flanieren.

Dresdnerin: Es waren schwere Zeiten.

Touristin: Aber manche Juden gingen das Wagnis ein, sich ohne den Stern in der Öffentlichkeit sehen zu lassen. Sie entfernten ihn unterwegs und konnten dann Verkehrsmittel benutzen, erschienen in Geschäften oder besuchten Konzerte, Theater, Kinos.

Kellnerin: Vielleicht hat ihnen nichts mehr an einer Begegnung gelegen? Was nützt die Straße wenn man dort nicht mit gedacht wird? Niemand will mit Menschen konfrontiert werden, die die eigene Entrechtung vorantreiben.

Dresdnerin: Das war eben so. Und viele sind ja dann auch gegangen. Ich habe mich immer gefragt, warum sie nicht einfach alle gegangen sind. Ich hab mir das doch nicht ausgedacht. Verstanden hab ich das ja auch nicht. Das waren ja so kluge Leute, der Klemperer… Und was dann später kam, konnte man ja nicht ahnen. Die Schilder wurden doch wieder abmontiert! Schon `43 haben die die Schilder wieder abmontieren wollen. Die waren nicht mehr nötig. Waren ja keine Juden mehr da. Die sind da ja schon nach dem Osten gegangen.

Historisches: Ende 1945, Anfang 1946 kehrte ein Überlebender aus dem Konzentrationslager Riga nach Dresden zurück. Am Eingang zur Brühlschen Terrasse fand er noch das Schild »Juden Zutritt verboten!« vor. 16 Kathrin Er riss es herunter und wurde daraufhin von einem Passanten beschimpft, wer ihm das Recht dazu gegeben habe.

* »Dresden erschien mir noch häßlicher als Berlin. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, außer an eine große Treppe: ein leidlich malerisches Bild. Als ich in der Toilette eines Cáfes mein Make-up erneuerte, tadelte die Wärterin mich zornig: »Nicht schminken, das tut man nicht. In Deutschland schminkt man sich nicht.«
Simone de Beauvoir, In den besten Jahren, Juni 1933

  1. 1 Herrmann, Matthias: »Ein großes Charaktersterben hat eingesetzt«. Zur Entlassung Fritz Buschs durch die Nationalsozialisten im März 1933, Dresdner Hefte, 22. Jahrgang, Heft 77, 1/04, S. XX
  2. 2 Ebenda, S. 44.
  3. 3 Ebenda, S. XX.
  4. 4 Henny Brenner: Das Lied ist aus. Ein jüdisches Schicksal in Dresden, 2017, S. 62.
  5. 5 Haase, Norbert, Jersch-Wenzel, Stefi, Simon, Hermann: Die Erinnerung hat ein Gesicht? Fotografien und Dokumente zur Nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933-1945, Leipzig 1998, S. 164.
  6. 6 Dubbers, Annette: Johannstadt: aus der Geschichte eines Dresdner Stadtteils, Umweltzentrum Dresden, 1999.
  7. 7 Ebenda.
  8. 8 XXX (Kathrin)
  9. 9 Ruth Klüger: weiter leben Eine Jugend, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & co. KG, München, November 1994, 13. Auflage März 2005, S. 50.
  10. 10 Rolf Tiedemann (Hg.): Theodor W. Adorno: »Ob nach Auschwitz noch sich leben lasse.« Ein philosophisches Lesebuch, 1997, S. 17.
  11. 11 Victor Klemperer: Tagebücher 1940-1941, Aufbau Taschenbuchverlag Berlin, 3. Auflage 1999, S. 167.
  12. 12 Ruth Klüger: weiter leben Eine Jugend, Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & co. KG, München, November 1994, 13. Auflage März 2005, S. 50.
  13. 13 Victor Klemperer Tagebücher 1940-1941, Aufbau Taschenbuchverlag Berlin, 3. Auflage 1999, S. 165.
  14. 14 Lefèbvre, Henry: Die Revolution der Städte, Dresden 2003, S. 31.
  15. 15 Haase, Norbert, Jersch-Wenzel, Stefi, Simon, Hermann: Die Erinnerung hat ein Gesicht? Fotografien und Dokumente zur Nationalsozialistischen Judenverfolgung in Dresden 1933-1945, Leipzig 1998, S. 164.
  16. 16 Kathrin