Festrede anlässlich der Premiere des audioscripts am 5. November 2008
Dr. Holger Birkholz (HfBK Dresden)
»audioscript« ist eine Sammlung von dreizehn Hörstücken, die vor allem aus gesprochenem Text besteht. Thema der Sammlung ist die Verfolgung und Vernichtung der Juden in Dresden während der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei werden unterschiedliche Textarten miteinander kombiniert: Berichte von Zeitgenossen, Texte von Historikern und Philosophen und selbst geschriebene Textpassagen und Dialoge der Autoren von »audioscript«. Die Bandbreite der Texte ermöglicht einen differenzierten Blick auf die historischen Ereignisse, aber auch – und das ist entscheidend – auf unseren heutigen Umgang damit. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten historischer Darstellungen, ihre Instrumentalisierung und die Bedingungen historischer Texte mit reflektiert.
Entstanden ist »audioscript« als Zusammenarbeit von Menschen aus ganz unterschiedlichen Bereichen, die hier in Dresden wohnen, unter ihnen Künstler und Soziologen. Die beeindruckende Liste an Autoren, Sprechern, Produzenten, Kooperationspartnern und anderen Beteiligten spiegelt ein anspruchsvolles Netzwerk, das zeigt, welchen Stellenwert eine reflektierte Auseinandersetzung mit der Geschichte des Holocaust in Dresdens haben kann.
Die Hörstücke wollen Sie als Hörer an dreizehn verschiedene Orte im Stadtraum von Dresden begleiten. Sie können die Abspielgeräte ausleihen oder die Stücke aus dem Internet herunterladen und sich auf den Weg machen. Im Sinne einer anderen Topographie Dresdens kann sich dabei für Sie, über den Raum ihrer alltäglichen Erfahrung der Stadt hinaus, die historische Perspektive der dreißiger und vierziger Jahre eröffnen, sowie die Bedeutung, die von der Shoah für uns heute ausgeht.
Orte der Erinnerung.
Die Diskussion um Erinnerungsorte hat in den letzten Jahren, vor allem im Bezug auf den Bau des Berliner »Denkmals für die ermordeten europäischen Juden«, wieder einen großen Aufschwung erlebt. Die Vielstimmigkeit dieser Kontroversen spiegelt sich auch in der Auseinandersetzung mit einer großen Bandbreite an verschiedenen Formen des Gedenkens und der Erinnerung.
Dazu gehören klassische Memorialfeiern und Mahnmale, die das Instrumentatrium bemühen, das die abendländische Kunstgeschichte ausgeprägt hat. Sie belegen ein weit verbreitetes, konservatives Bedürfnis nach Mahnmalen in Form von Architektur und Plastik, das sich auch in einer aktuell aufkommenden Flut an solchen Denkmälern in der Hauptstadt zeigt. Sicher haben sie eine gesellschaftliche Berechtigung und darüber hinaus für jeden Einzelnen, der mit ihnen eine Möglichkeit findet, persönlich Position zu beziehen.
Dass diese Formen jedoch angesichts eines geschichtlichen Ereignisses, das völlig singulär und unvergleichbar in seinen menschenverachtenden Ausmaßen dasteht, nicht ausreichen können, wurde des Öfteren kritisch bemerkt.
So wurden immer wieder, gerade auch aus dem Bereich der Kunst, Vorschläge gemacht, die das Nichtfasslichen dieser Gräueltaten reflektieren.
In ihrer Auseinandersetzung mit dem Mord an den europäischen Juden durch Nazideutschland arbeiten viele Künstler an dem Dilemma, für etwas Unfassbares eine Form zu finden, die als Versuch des Begreifens, Versuch der Erinnerung und in gewisser Weise auch einer eingestandenermaßen unmöglichen Vergegenwärtigung, oder dem Versuch der Mahnung verstanden werden kann.
Jochen Gerz schuf 1986 zusammen mit seiner Frau Esther Shalev-Gerz ein Mahnmal für Hamburg Harburg, das mit der Zeit im Boden versank und heute nur noch als Bodenplatte sichtbar ist.
1990-92 tauschte Gerz Steine auf dem Stuttgarter Schlossplatz aus, auf denen er die Namen von 2.146 Jüdischen Friedhöfen eingravierte, auf denen bis 1933 Bestattungen stattfanden. Gerz setzte diese Steine mit der Schrift nach unten ein, so dass sie nicht von den anderen Steinen auf dem Platz zu unterscheiden sind.
1987 rekonstruierte Horst Hoheisel in Kassel den Aschrottbrunnen als Negativform. Ursprünglich war der Brunnen vor dem Kasseler Rathaus von dem jüdischen Industriellen Aschrott als Zeichen seines bürgerschaftlichen Einsatzes für die Stadt gestiftet worden. Der Brunnen mit seinen spitzen Obelisken bohrt sich heute wie ein Pfahl in den Boden. Das Wasser sammelt sich nicht mehr im Becken des früheren Brunnens, sondern stürzt in die Tiefe der Negativform.
Diesen künstlerischen Ansätzen der achtziger Jahre ist die Auseinandersetzung mit der Negativform gemeinsam. Sie schaffen eine Gestalt, die sich mit der Absenz befasst. Das ist vor allem auch die Abwesenheit einer unglaublich hohen Zahl von Menschen.
Man kommt in diesem Zusammenhang wahrscheinlich nicht umhin Adorno zu zitieren, auch wenn seine Worte seit 1951, als sie geschrieben wurden, unzählige Male wiederholt wurden. Mit seinem Diktum, es sei barbarisch nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, stellt er das Dilemma heraus, dass jede Form der traditionellen, kulturellen Auseinandersetzung mit Auschwitz und darüber hinaus mit der Judenvernichtung eine Instrumentalisierung darstellt. Und aus diesem Dilemma gibt es in der Gesellschaft kein Entrinnen.
»Noch das äußerste Bewusstsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.«
(Adorno, Theodor W.: Prismen, Kulturkritik und Gesellschaft, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Hg. v. Rolf Tiedemann, Bd. 10.1, , S. 9-287, hier S. 30.)
Nach Adorno ist es demnach also nicht nur problematisch heute Gedichte zu schreiben, sondern in gewisser Weise auch darüber zu sprechen, dass es unmöglich ist. Die Metaebene wird suspekt, da auch sie ein Instrument einer Versachlichung ist, die sich dem Aushalten von Diversität entgegenstellt, indem sie ein Faktum produziert. Das Diktum der Unaussprechlichkeit wird verdächtig, sobald es ausgesprochen wird.
Auch das Projekt »audioscript« arbeitet mit dem Problem der Darstellbarkeit. Es setzt dem heute wieder starken Bedürfnis nach Denkmälern ein Medium entgegen, das von einer gewissen Flüchtigkeit ist, die Sprache. In der sprachlichen Formulierung und das heißt hier auch immer in der gesprochenen Form, zeigt sich die Vielfalt in der über die Vergangenheit geredet wird.
Es herrscht eine Fülle von Ansichten und Auffassungen. Mal sind sie politisch motiviert. Dann treibt sie die Absicht einer möglichst umfassenden Aufarbeitung der historischen Ereignisse. Schließlich sind es persönliche Meinungen, die aus einem individuellen Standpunkt angesichts der Geschichte erwachsen sind. Dabei treffen zwei grundlegende Linien aufeinander, zum einen die Idee eines sachgemäßen Verständnisses, dessen was geschehen ist, und zum anderen das was ich aus diesem Wissen für mich mache.
Problem der Orte.
Ein Thema von »audiosript« ist die Frage nach den Orten der Erinnerung. Es besteht in unserer Gesellschaft eine gewisse Kopplung der Erinnerung an bestimmte Orte. Wir gehen dort gezielt hin, um uns zu erinnern. Erinnerung an diesen Orten ist einer starken Formalisierung unterworfen, die durch die Gestaltung der Erinnerungsorte vorgegeben ist.
Bei einem historischen Ereignis, wie der Judenverfolgung und -vernichtung täuscht jedoch die Konzentration auf einen Ort als Mahnmal darüber hinweg, das das Ereignis, eben nicht punktuell war und sich auf Orte konzentrierte, sondern das es vielmehr in allen Bereichen der Gesellschaft angesiedelt war und mit jedem Menschen dieser Zeit und darüber hinaus mit den Menschen der folgenden Generationen in Berührung kam.
Dass für »audioscript« wiederum Orte ausgewählt wurden, anhand derer exemplarisch Ereignisse der Judenverfolgung und der Auseinandersetzung mit diesem Thema zur Sprache kommen, ist ein Versuch der Dezentralisierung von Erinnerung, der sich gleichzeitig bewusst wird, dass er einer gewissen Formalisierung und Vereinnahmung nicht entgeht.
Darüber hinaus führt der schlichte Umstand, dass die Abspielgeräte von vielen verschiedenen Menschen in der kommenden Zeit durch Dresden getragen werden, zu einer Art mobilem Denkmal. Es verbindet die Beweglichkeit der Gedanken, für eine Zeit in der Zeit des Sprechens ausgeführt, mit der Vorstellung von der Kontinuität des Ortes. Die Sprache ist ein Medium, das in der zeitlichen Folge erlebt wird, selbst wenn sie hier in gewisser Weise durch die Wiederabrufbarkeit der einzelnen Stücke festgesetzt wurde. Die Vorstellung von den Orten im Stadtraum hingegen, an denen eine Nähe zu einem historischen Ereignis, das genau hier stattgefunden hat, erfahren werden kann, basiert auf der Kontinuität des Raumes.
Wenn wir uns heute an den Ort der Judenhäuser begeben, stellen wir uns mit unserem Körper an den Ort eines geschichtlichen Geschehens, auch wenn der Ort sich in den letzten siebzig Jahren völlig verändert hat und vielleicht nichts mehr von dem erhalten ist, was die historische Bedeutung des Ortes ausmacht. Andere Orte bestehen bis heute, wenn auch in veränderter Form: Wohngebäude, in denen die jüdische Bevölkerung Dresdens eingewiesen und ghettoisiert wurde, oder Fabriken, wie das ehemalige Goehlewerk in der Riesaer Straße.
Die Verbindung stellt jeder von uns selbst her. Wir sind es, die die Erinnerung an die Orte tragen und damit eine Vergangenheit für uns heute wieder anschaulich werden lassen, wenn auch mit dem steten Bewusstsein der Distanz zu den historischen Ereignissen.
Diese Art der Dialektik reflektieren auch etliche der Tracks selbst, indem sie Texte unterschiedlichen Charakters einander gegenüberstellen. Da sind zum einen die Berichte der Zeitgenossen, an vorderster Stelle Victor Klemperer und Henny Brenner, daneben stehen Passagen, in denen historische Fakten zusammengetragen werden. Eine wichtige Rolle spielen philosophische und analysierende Texte – wie die des bereits genannten Theodor W. Adorno oder Jean Amèrys – kritische Untersuchungen von Historikern, die zum Teil ein hohes Abstraktions- und Reflexionsniveau vom Zuhörer erfordern.
Des Weiteren werden durch die Autoren der Hörstücke selbst verfasste Texte und Dialoge eingespielt, in denen vor allem auch wir zur Sprache kommen: Meinungen und Ansichten unserer Zeitgenossen, in denen wir uns mal mehr, und dann wieder weniger selbst oder andere erkennen. Auf diese Weise entsteht ein Spannungsfeld von Ansichten und Lesarten des Historischen. – Im wahrsten Sinne sind das Ansichten, denn sie finden ihren Ort dort, wo wir stehen und wo wir räumlich in Berührung kommen mit der Geschichte. Die Orte in Dresden, auf die uns die Hörstücke eine andere Sicht vermitteln wollen, sind der Platz der Bücherverbrennung, der Ort der Deportation oder ein Standpunkt an der Strecke des Todesmarsches.
Dabei hat sich sicher die Stadt verändert, doch bleiben Spuren des Historischen bestehen, oder gerade das Fehlen der Spuren von den Ereignissen, die dort stattgefunden haben, macht einen gewissen Umgang mit den Orten deutlich. So wird am Ort der Judenlager am Hellerberg festgestellt, dass es dort heute keine Spuren mehr gibt und wir dort entlang der vielbefahrenen Radeburger Straße, einem Autobahnzubringer, unwirtliche Brachflächen vorfinden. Wenn wir uns mit dem gesprochenen, uns von »audioscript« angebotenen Worten durch die Stadt bewegen, tragen wir im wörtlichen Sinne Erinnerung an die Orte. Wir werden selbst zur Schnittstelle zwischen dem räumlich konkreten Ort und der Reflexion darüber. So realisiert sich Erinnerung und die Auseinandersetzung mit ihr punktuell in jedem von uns selbst.