Audioscript zur Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Dresden 1933 - 1945

»Es gibt in der Tat nur zwei Möglichkeiten: Eine endgültige Versöhnung mit dieser Vergangenheit oder aber der konstante, d. h. in fortwährender Auseinandersetzung zu vollziehende Bruch mit ihr.« (Moishe Postone)

»Seit November 2008 steht unter www.audioscript.net eine Audiotour zur Geschichte der Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Dresden zwischen 1933 und 1945 zur Verfügung, seit Oktober 2009 auch in englischer Sprache. Die Audioproduktion besteht aus zwölf Tracks zu exemplarischen Orten der antisemitischen Verfolgung im Nationalsozialismus und deren gegenwärtiger Rezeption. In den 10- bis 20-minütigen Beiträgen wird die Geschichte der Orte und der dort stattgefundenen Verbrechen aufgezeigt.«

Das ›audioscript‹ folgt keinem chronologischen oder dramaturgischen Gesamtaufbau. Die einzelnen Tracks unterscheiden sich in ihren thematischen Schwerpunkten und der künstlerischen Umsetzung. Einige nähern sich den Orten essayistisch oder in Form der Montage bestimmter Perspektiven. Andere bedienen sich fiktionalisierter Dialoge, die das gegenwärtige Alltagsgespräch über die Zeit des Nationalsozialismus skizzieren. Über den konkreten Ort hinaus dienen zwei Koordinaten der Auseinandersetzung: Das individuelle Erleiden wird entgegen des hiesigen hegemonialen Geschichtsdiskurses durch autobiografisches Material der Überlebenden stark gemacht. Das Erlittene korrespondiert mit Zitaten einer Kritischen Theorie, die Auschwitz nicht historisiert, sondern als Zivilisationsbruch markiert und zum Ausgangspunkt jeder philosophischen Überlegung macht.

Das ›audioscript‹ entzieht sich bewusst der herkömmlichen Konzeption von Audioguides zur Verfolgungsgeschichte der Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus: Der erste Bruch besteht im Verzicht auf eine chronologische Darstellung von Ereignisgeschichte. Es geht uns darum, die Shoah gerade nicht aus einer Chronologie abzuleiten. Dass die Verbrechen zumeist in zeitlicher Abfolge erzählt werden, suggeriert eine Ableitung, die auf ein ›logisches Ergebnis‹ zusteuert: Auf die Entrechtung folgten Isolation und Deportation, die zur Vernichtung führten – der Massenmord am Ende der chronologischen Erzählung erhält so nahezu etwas ›Folgerichtiges‹. Eine solche Darstellung ist nach Claude Lanzmann »eine simple Abfolge des Vorher und Nachher, zutiefst untragisch, und der Tod kommt, wenn er eintrifft, immer zur rechten Stunde, nicht-gewaltsam, nicht-skandalös.« Da die sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden aber nicht gestorben sind, weil ihre Stunde gekommen war, »muss jedes Werk, das dem Holocaust heute gerecht werden will, zuallererst mit der Ordnung der Chronologie brechen.« 1 Claude Lanzmann: Shoah, Absolut Medien, 2008.

Die Konzeption des ›audioscriptes‹ ist der Versuch, einer Musealisierung und der damit einhergehenden Historisierung entgegen zu wirken. Das Hauptaugenmerk lag auf einer Analyse der deutschen Gesellschaft im Nationalsozialismus und deren Tradierung sowie ihrer Kontinuitäten bis in die Gegenwart: Entlastungsantisemitismus, Antizionismus und Schuldabwehr. Schließlich wird eine Kritik formuliert an konventionellen Erinnerungspraxen, die oft erst in Konfrontation mit Denkmälern und authentischen Artefakten der Vernichtung stattfinden.

Die Entscheidung für ein Audioformat ermöglicht es, im Gegensatz zu vielen anderen künstlerischen oder dokumentarischen Arbeiten, ganz auf die Verwendung von Bildmaterial zu verzichten. Eine permanente Reproduktion von (antisemitisch motivierten) Fotografien und Bildern, die zumeist aus der nationalsozialistischen Täter_innenperspektive aufgenommen wurden und die dargestellten Menschen zu Objekten herabwürdigen, findet so nicht statt. Das ›audioscript‹ verweigert sich in vielfacher Hinsicht einem Authentizitätsanspruch. Insofern enthält es keinerlei O-Töne überlebender Jüdinnen und Juden, sondern verwendet ausschließlich Zitate von Überlebenden aus verschriftlichten Quellen und kontextualisiert diese durch Zitate aus einer Kritischen Theorie.

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Das ›audioscript‹ bedient sich des Terminus ›Script‹, um zwei Aspekten Rechnung zu tragen: zum einen dem exemplarischen Charakter der Verbrechensorte und zum anderen der Unmöglichkeit einer vollständigen historischen Betrachtung angesichts der vorhandenen Lücke in den vorliegenden Zeugnissen. Es markiert Orte von Verbrechen und Vernichtung im städtischen Raum Dresdens. Uns ist es jedoch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Markierung bestimmter Orte nicht den Schluss zulässt, es handle sich um die nationalsozialistischen Verbrechensorte in Dresden schlechthin; vielmehr stellen diese lediglich eine Auswahl dar.

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Giorgio Agamben hat im Anschluss an Primo Levi die Problematik der Zeug_innenschaft aufgeworfen. Dabei untersucht er die Frage: Wie können Überlebende der Shoah für die Ermordeten sprechen? Die Bezeichnung ›Script‹ versucht der Tatsache gerecht zu werden, dass eine Geschichte der Verfolgung und Vernichtung niemals vollständig ist, da die Erfahrung der Vernichtung nicht erzählt werden kann. Der am Güterbahnhof Dresden-Neustadt zu hörende Track # 11 zu Deportation und Vernichtung verweist auf die Realität, dass das uns zugängliche Material in Form von Zeugnissen des Überlebens angesichts sechs Millionen ermordeter Jüdinnen und Juden ob der auf Ausnahmslosigkeit angelegten Vernichtung die explizite Ausnahme darstellt.

Die Geschichte des Nationalsozialismus wird medial und museal in unterschiedlichster Weise gesellschaftlich verhandelt. Dem ›audioscript‹ ist nicht an einer klassischen linearen und abstrakten Vermittlung von Ereignisgeschichte gelegen, da diese der kommunikativen Tradierung von NS-Vergangenheit nicht gewachsen ist. Es zeichnet sich in immer stärkerem Maße eine Diskrepanz ab zwischen einer öffentlichen Erinnerungspraxis des ritualisierten Schuldbekenntnisses und einer davon im Wesentlichen unberührten familien- bzw. milieuspezifischen Erzählung des Nationalsozialismus, die Strategien der Schuldabwehr und Trivialisierung etabliert. Wir haben daher geschichtspolitische und erinnerungskulturelle Diskurse zu einem Schwerpunkt gemacht. So beginnt das ›audioscript‹ an der Neuen Synagoge mit einer Auseinandersetzung um den Topos der Abspaltung der ›normalen Deutschen‹ von den ›Nazis‹. Der Nationalsozialismus wird nicht als ein die Volksgemeinschaft terrorisierendes System besprochen, sondern als eben die Gemeinschaft, die ideologisch und strukturell den Nationalsozialismus stützte und ermöglichte. Man kann konstatieren, dass die Volksgemeinschaft keine ›Terrorherrschaft‹ erlebt hat, sondern diese nur als erlebt erzählt und erinnert.

Den Anfang des ›audioscriptes‹ bilden dementsprechend die Erinnerungen Leo Jehuda Schornsteins, dem während der Pogrome 1938 nicht eine Diktatur entgegen trat, sondern die Schikane und Gewalt der dazu nicht gezwungenen, sondern bereiten deutschen Gesellschaft: »Mir wurde ein Gebetsmantel über den Kopf gestülpt, man gab mir zwei silberne Thorakronen in die Hand, schob mich an das zur Straße führende Fenster und ›schaukelte‹ mich mit Schlägen im Fenster hin und her, wobei die unten stehende Volksmenge in frenetisches Johlen ausbrach. Diese Prozedur mußte ich noch auf einem Stuhl stehend mehrmals wiederholen, wobei sich der Mob auf der Straße noch mehr ergötzte. Nach dieser ›Volksbelustigung‹ durfte ich mich setzen. Es war nun gegen Mittag. Um 1.00 Uhr kam ein Polizei-Lastauto, und die SS- und Gestapo-Männer luden die Gemeindeakten und Karteien sowie die Kultgegenstände auf und fuhren weg. Um 2.00 Uhr kam das Gefängnisauto, die so genannte ›Grüne Minna‹, und wir wurden abtransportiert.« 2 Leo Jehuda Schornstein: Bericht vom 26. Juli 1970 an Adolf Diamant. In: Adolf Diamant: Chronik der Juden in Dresden, Darmstadt 1973, S. 405.

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Das ›audioscript‹ ist kein Monument, keine Architektur des Erinnerns, sondern flüchtig. Erst der Rundgang durch die Stadt macht die Orte für die Rezipient_innen konkret, sie als Hörende wiederum sind im städtischen Raum sichtbar. Sie markieren den Ort, sie selbst stellen eine Irritation, eine Intervention dar und führen insofern zu einer Art mobilem Denkmal. Die Hörenden werden zur Schnittstelle zwischen dem räumlich konkreten Ort und der Reflexion darüber. In einigen Tracks wird der gegenwärtige Zustand eines authentischen Ortes reflektiert und der damit in Zusammenhang stehende Erinnerungsdiskurs, zum Beispiel an der Neuen Synagoge. Der Track zum ehemaligen Judenlager am Hellerberg konfrontiert die Hörenden mit der sichtbaren Nichterinnerung in Form der Brache und fragt nach Möglichkeiten und Grenzen eines Denkmals und dem musealen Umgang mit den heutigen KZ-Gedenkstätten. 3 Vgl. Track #13 Geländebewahrer. Das Judenlager am Hellerberg.

»Wir betraten das Hauptgebäude, das Museum, das früher, wie auf einem Schild stand, das Krankenhaus gewesen war, wo man Experimente an Menschen durchgeführt hat, aber von diesem Hinweis mal abgesehen war alles ordentlich präsentiert und arrangiert, korrekt, nüchtern und intelligent. Diese beschissenen Deutschen haben es tatsächlich geschafft, sagte ich zu Marcowsky, eine nette Mischung aus Anstand und Hygiene, ein ausgeprägtes Gefühl für das Tragische, aber ohne den Schrecken, wie es sich gehört, und dennoch.« 4 Raymond Federman: Die Nacht zum 21. Jahrhundert oder aus dem Leben eines alten Mannes, Nördlingen 1988, S. 144.

Fußnoten: